Die Libelle
befestigte das Armband am anderen Handgelenk. »Du hast mich vollkommen umgeworfen; ich habe die Pistole geküsst und kann nun gar nicht schnell genug auf die Barrikaden. Wenn wir das nicht glauben, sind all deine Bemühungen der letzten Tage fehlgeschlagen. Was aber nicht der Fall ist. So hast du mir meine Rolle gegeben, und so hast du mich gekriegt. Auseinandersetzung vorbei. Ich mach’s.«
Sie sah, wie er leicht zustimmend nickte. »Und wenn du als Joseph zu mir sprichst - was macht das für einen Unterschied? Hätte ich abgelehnt, hätte ich dich nie wieder gesehen. Da wäre ich mit meinem goldenen Händeschütteln wieder im Nirgendwo.« Zu ihrer Überraschung bemerkte sie, dass er das Interesse an ihr verloren hatte. Er hob die Schultern, stieß einen langen Seufzer aus; sein Gesicht blieb dem Fenster zugewandt, den Blick hatte er auf den Horizont gerichtet. Er fing wieder an zu sprechen, und zuerst dachte sie, er weiche wieder dem Stoß aus, den sie mit ihren Worten auf ihn gerichtet hatte. Doch als sie weiter zuhörte, ging ihr auf, dass er ihr erklärte, warum - soweit es ihn betraf - sie beide nie eine echte Wahl gehabt hätten.
»Michel hätte diese Stadt meiner Meinung nach gefallen. Bis zur Besetzung durch die Deutschen haben da drüben auf dem Berg sechzigtausend Juden ziemlich glücklich gelebt. Postbeamte, Händler, Bankiers. Sephardim. Sie sind aus Spanien über den Balkan hierhergekommen. Als die Deutschen abzogen, waren keine mehr da. Diejenigen, die nicht ausgerottet wurden, haben sich nach Israel durchgeschlagen.«
Sie lag im Bett. Joseph stand immer noch am Fenster und beobachtete, wie das Licht auf den Straßen erlosch. Sie überlegte, ob er wohl zu ihr käme, wusste jedoch, dass er es nicht tun würde. Sie hörte ein Knarren, als er sich auf den Diwan legte, sein Körper parallel zu ihrem, und zwischen ihnen erstreckte sich nur Jugoslawien. Sie begehrte ihn mehr, als sie je einen Mann begehrt hatte. Ihre Angst vor morgen vergrößerte ihr Verlangen nur noch. »Hast du eigentlich Geschwister, Jose?« fragte sie.
»Einen Bruder.«
»Und was macht der?«
»Er ist im 67er-Krieg gefallen.«
»In dem Krieg, der Michel über den Jordan trieb«, sagte sie. Sie hätte nie erwartet, dass er ihr eine ehrliche Antwort geben würde, doch sie wusste, dass er die Wahrheit gesagt hatte. »Hast du in dem Krieg auch mitgekämpft?«
»Das will ich meinen.«
»Und in dem Krieg davor? Dem, an dessen Datum ich mich nicht erinnere?
»Sechsundfünfzig.«
»Ja?«
»Ja.«
»Und in dem danach? ‘73.«
»Anzunehmen.«
»Wofür hast du gekämpft?«
Wieder warten.
»‘56, weil ich ein Held sein wollte, ‘67 für den Frieden. Und 73« -es schien ihm schwer zu fallen, sich zu erinnern - »für Israel«, sagte er.
»Und jetzt? Wofür kämpfst du diesmal?«
Weil es da ist, dachte sie. Um Leben zu retten. Weil sie mich dazu aufgefordert haben. Damit die Bewohner meines Dorfes den dabke tanzen und damit sie auch die Berichte der Reisenden hören können.
»Jose?« »Ja, Charlie?«
»Woher hast du eigentlich diese tiefen, runden Narben?« Seine langen Pausen hatten im Dunkeln etwas Erregendes wie ein Lagerfeuer bekommen. »Die Brandmale, würde ich sagen. Die habe ich bekommen, als ich in einem Panzer saß. Und die Löcher von den Kugeln, als ich da raus wollte.«
»Wie alt warst du damals?«
»Zwanzig. Einundzwanzig.«
Mit acht habe ich mich der Ashbal angeschlossen, dachte sie. Mit fünfzehn...
»Und wer war dein Vater?« fragte sie, entschlossen, am Ball zu bleiben. »Er war ein Pionier. Ein früher Siedler.« »Woher?« »Aus Polen.« »Wann?«
»In den zwanziger Jahren. Mit der dritten aliyah , falls du weißt, was das bedeutet.«
Sie wusste es nicht, doch für den Augenblick spielte das keine Rolle.
»Was hat er gemacht?«
»War Bauarbeiter. Hat mit seinen Händen gearbeitet. Eine Sanddüne in eine Stadt verwandelt. Sie Tel Aviv genannt. Ein Sozialist - einer von den praktischen. Hat nicht viel an Gott gedacht. Nie getrunken. Nie etwas besessen, das mehr als ein paar Dollar wert gewesen wäre.«
»Wärest du das auch gern gewesen?« fragte sie. Darauf antwortet er nie, dachte sie. Er schläft ja schon. Sei nicht unverschämt.
»Ich habe die Berufung zu was Höherem gewählt«, erwiderte er trocken.
Oder sie hat dich gewählt, dachte sie, denn so nennt man Berufung, wenn man in die Gefangenschaft hineingeboren wurde. Und irgendwie schlief sie dann plötzlich sehr schnell ein. Aber Gadi
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