Die Libelle
sie unser Volk aus Palästina in alle Himmelsrichtungen vertrieben haben, so bestrafen wir sie in ihrer Diaspora und bringen unsere Qual den Ohren und Augen der Welt zur Kenntnis. - Und gleichzeitig wecken wir damit das schlafende Bewusstsein des Proletariats«, fügte er, als nicht so überzeugenden Nachgedanken, hinzu.
»Nun, das scheint mir nur gerecht.«
»Danke.« »Und du und Marty - ihr habt euch also gedacht, dass es nett wäre, wenn ich ihnen den Gefallen täte, das Auto nach Österreich hinaufzubringen.« Sie holte ein wenig Luft, erhob sich und trat ganz bewusst ans Fenster. »Würdest du mich bitte in den Arm nehmen, Joseph? Nicht, weil ich leichtfertig wäre. Es ist nur, dass ich mich dort eben einen Augenblick lang ein bisschen verlassen gefühlt habe.«
Ein Arm legte sich ihr um die Schulter, und sie zitterte heftig darin. Sie schmiegte sich an ihn und drehte sich zum ihm hin, umschlang ihn, drückte ihn an sich und spürte zu ihrer Freude, wie die Starre aus ihm wich und er ihren Druck erwiderte. Ihr Denken arbeitete überall zugleich, wie ein Auge, das auf ein weites und unerwartetes Panorama hinausblickte. Doch am klarsten - jenseits der unmittelbaren Gefahr der Fahrt - begann sie endlich die größere Reise, die vor ihr lag, zu sehen und entlang der Strecke die gesichtslosen Genossen der anderen Armee, der sich anzuschließen sie im Begriff stand. Schickt er mich, oder hält er mich zurück? fragte sie sich. Er weiß es nicht. Er wacht auf und geht gleichzeitig schlafen. Seine Arme, mit denen er sie immer noch umfasst hielt, gaben ihr neuen Mut. Bis jetzt hatte sie im Bann seiner entschlossenen Keuschheit die dunkle Vorstellung gehabt, ihr Körper, der schon viele Liebhaber gekannt hatte, sei seiner nicht würdig. Jetzt war dieser Selbstekel aus Gründen, die sie noch herausfinden musste, von ihr gewichen.
»Überzeug mich weiter«, sagte sie und hielt ihn immer noch umfasst. »Tu deine Pflicht.«
»Ist es denn nicht genug, dass Michel dich schickt, dich jedoch gleichzeitig nicht gehen lassen möchte?«
Sie antwortete nicht.
»Soll ich dir Shelley zitieren - ›die ungestüme Herrlichkeit des Terrors‹? Muss ich dich an unsere vielen Versprechen erinnern, die wir uns gegeben haben? - dass wir bereit sind, zu töten, weil wir bereit sind, zu sterben?«
»Ich glaube, Worte richten nichts mehr aus. Ich glaube, ich habe alle Worte gehört, die ich schlucken kann.« Sie hatte ihr Gesicht an seiner Brust verborgen. »Du hast versprochen, in meiner Nähe zu bleiben«, erinnerte sie ihn und spürte, wie seine Umarmung nachließ, während seine Stimme hart wurde.
»Ich werde in Osterreich auf dich warten«, sagte er in einem Ton, der mehr dazu angetan war, zurückzustoßen, als zu überreden. »Das ist das Versprechen, das Michel dir gegeben hat. Ich gebe es dir auch.«
Sie trat einen halben Schritt zurück und hielt sein Gesicht zwischen den Händen, so wie sie es auf der Akropolis gehalten hatte, und betrachtete es kritisch im Schein der Lampen unten auf dem Platz. Dabei hatte sie das Gefühl, es habe sich vor ihr verschlossen wie eine Tür, die sie weder herein- noch herauslassen wollte. Ernüchtert und erregt zugleich, kehrte sie zum Bett zurück und setzte sich wieder hin. Auch ihre Stimme hatte eine neue Zuversicht, die sie beeindruckte. Ihr Blick ruhte auf dem Armband, das sie im Halbdunkel nachdenklich hin und her drehte.
»Wie möchtest du es denn? fragte sie. »Du, Joseph? Soll Charlie bleiben und den Auftrag übernehmen, oder soll Charlie das Geld einstecken und machen, dass sie fortkommt? Wie sieht denn dein persönliches Szenarium aus?«
»Du kennst die Gefahren. Entscheide dich.«
»Du auch, sogar besser als ich. Du hast sie von Anfang an gekannt.«
»Du hast sämtliche Argumente gehört - sowohl von Marty als auch von mir.«
Sie nestelte die Schließe des Armbands auf und ließ es sich in die Hand gleiten. »Wir retten das Leben Unschuldiger. Das heißt, vorausgesetzt, ich liefere den Sprengstoff ab. Selbstverständlich gibt es auch jene - Einfaltspinsel -, die meinen, man könnte mehr Leben retten, wenn man den Sprengstoff nicht abliefert. Doch die, nehmen ich an, irren sich wohl.«
»Auf lange Sicht, und vorausgesetzt, alles geht gut, irren sie sich.« Wieder hatte er ihr den Rücken zugewandt - allem Anschein nach, um das Bild zu betrachten, das sich seinen Augen vom Fenster aus bot.
»Wenn du als Michel zu mir redest, ist es einfach«, fuhr sie verständig fort und
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