Die Libelle
nicht einmal mehr vom Original unterscheiden konnte. Vielleicht wusste Joseph das. Vielleicht entnahm er das ihrer brüsken Art. Hoffentlich! Mit behandschuhter Hand hielt er ihr die Autotür auf, und sie stieg rasch ein.
»Sieh noch mal nach den Papieren«, befahl er.
»Brauche ich nicht«, sagte sie und sah geradeaus.
»Autonummer?«
Sie nannte sie ihm.
»Zulassungsdatum?«
Sie gab auf alles eine Antwort: eine Geschichte in einer Geschichte in einer Geschichte. Das Auto war Eigentum eines Münchener Modearztes, dessen Namen sie parat hatte und der im Augenblick ihr Liebhaber war. Versichert und auf seinen Namen zugelassen, siehe die falschen Papiere.
»Warum ist er denn nicht bei dir, dein tüchtiger Doktor? Michel fragt dich dies, verstehst du?«
Sie verstand. »Er musste heute Morgen wegen eines dringenden Falles von Saloniki nach Hause fliegen. Ich habe mich bereit erklärt, den Wagen für ihn zurückzufahren. Er war in Athen, um dort einen Vortrag zu halten. Wir sind zusammen unterwegs gewesen.« »Wie hast du ihn denn überhaupt kennen gelernt?« »In England. Er ist ein guter Freund meiner Eltern - heilt sie von ihrem Katzenjammer. Meine Eltern sind ungeheuer reich, Andeutung, Andeutung.«
»Für den Notfall hast du Michels tausend Dollar in der Handtasche, die er dir für die Reise geliehen hat. Vielleicht solltest du daran denken, diesen Leuten für die Überstunden und die Umstände, die du ihnen verursacht hast, eine Kleinigkeit zukommen zu lassen. Wie heißt seine Frau?«
»Renate, ich hasse diese Ziege.« »Und die Kinder?«
»Christoph und Dorothea. Ich würde ihnen eine wunderbare Mutter sein, wenn nur Renate den Platz freimachte. Ich möchte jetzt fahren. Noch was?«
»Ja.«
Dass du mich liebst, schlug sie in Gedanken vor. Dass es dir ein bisschen leid tut, mich mit einem Wagen voll von erstklassigem russischen Plastik-Sprengstoff durch halb Europa zu scheuchen.
»Sei nicht allzu selbstsicher«, riet er ihr mit nicht mehr Gefühl, als wenn er ihren Führerschein überprüft hätte. »Nicht jeder Grenzbeamte ist ein Trottel oder ein Sexungeheuer.«
Sie hatte sich vorgenommen, nicht Lebewohl zu sagen, und vielleicht hatte Joseph dasselbe getan.
»Also, Charlie«, sagte sie und ließ den Motor an. Er winkte ihr nicht nach, noch lächelte er. Vielleicht wiederholte er: »Also, Charlie«, doch wenn er es tat - sie hörte es nicht. Sie kam auf die Hauptstraße; das Kloster und seine zeitweiligen Bewohner verschwanden aus dem Rückspiegel. Mit großer Geschwindigkeit fuhr sie ein paar Kilometer, dann erreichte sie einen alten gemalten Pfeil mit der Aufschrift: Jugoslawien . Sie fuhr langsam weiter, folgte dem allgemeinen Verkehr. Die Straße verbreiterte sich und wurde zu einem Parkplatz. Sie sah eine Schlange von Reisebussen, eine Autoschlange und die Flaggen aller Nationen, von der Sonne zu Pastelltönen gebleicht. Ich bin Engländerin, Israeli, Deutsche und Araberin. Sie reihte sich hinter einem offenen Sportwagen ein. Zwei junge Männer saßen vorn, zwei Mädchen hinten. Sie fragte sich, ob es wohl Josephs Leute wären. Oder Michels. Oder irgendwelche Polizei. Sie lernte die Welt auf diese Weise betrachten: jeder gehört zu irgendwem. Ein grau-uniformierter Beamter winkte sie ungeduldig voran. Sie hatte alles bereit. Falsche Papiere, falsche Erklärungen. Kein Mensch war daran interessiert. Sie war drüben.
Auf der Hügelspitze hoch über dem Kloster ließ Joseph seinen Feldstecher sinken und kehrte zu dem wartenden Lieferwagen zurück.
»Ladung auf den Weg gebracht«, sagte er kurz angebunden zu David, der die Wörter gehorsam in seinen Apparat tippte. Für Becker hätte er alles getippt - alles riskiert, jeden erschossen. Becker war für ihn eine lebende Legende, vollkommen in all seinen Fähigkeiten, jemand, dem er unermüdlich nacheifern sollte. »Marty erwidert: Gratuliere«, sagte der junge Mann ehrfürchtig. Doch der große Becker schien ihn nicht zu hören.
Sie fuhr eine Ewigkeit. Sie fuhr, die Arme schmerzten, weil sie das Steuer zu fest gepackt hatte, und der Nacken tat ihr weh, weil sie die Beine zu steif hielt. Sie fuhr, und ihr wurde flau im Magen, weil sie die Bauchmuskeln zu wenig anspannte. Dann wieder wurde ihr flau, weil sie zuviel Angst hatte. Dann noch flauer, als der Motor stotterte und sie dachte: Hurra, jetzt haben wir eine Panne. Sollte das geschehen, gib ihn einfach auf, hatte Joseph gesagt. Fahr ihn in eine Abzweigung, lass dich per Anhalter mitnehmen,
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