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Die Libelle

Die Libelle

Titel: Die Libelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John le Carré
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spiele rund um die Uhr eine Ein-Mann-Show; erst die ganze Welt, dann ich.
    Doch als die Zeit verging, wich ihre Angst vorm Entdecktwerden allmählich einer gewissen liebevollen Geringschätzung gegenüber den Unschuldigen um sie herum, die einfach nicht sahen, was sich Tag für Tag unter ihrer Nase abspielte. Sie sind dort, wo ich herkam, dachte sie. Sie sind ich, ehe ich durch den Spiegel schritt.
    Joseph selbst gegenüber bediente sie sich einer Technik, die sie auf ihrer Fahrt durch Jugoslawien vervollkommnet hatte. Er war der Vertraute, auf den sie jede Handlung und jede Entscheidung bezog; er war der Geliebte, für den sie ihre Witze riss und für den sie sich schön machte. Er war ihr Stecken und Stab, ihr bester Freund, überhaupt das Beste, was es gab. Er war der Kobold, der an den unmöglichsten Orten auftauchte und schon immer im voraus ganz genau wusste, wo sie war -mal an einer Bushaltestelle, dann wieder in einer Bibliothek oder in der Automaten-Wäscherei, wo er im Neonlicht unter den schlampigen Muttis saß und zusah, wie seine Hemden sich drehten. Nie jedoch gab sie seine Existenz zu. Er hatte mit ihrem Leben nicht das allergeringste zu tun, war außerhalb von Zeit und Raum - bis auf ihre verstohlenen Rendezvous, die sie aufrechterhielten. Bis auf seinen Ersatz, Michel. Für die Proben zu Wie es euch gefällt hatte das Theater eine alte Übungshalle der Territorial-Armee in der Nähe der Victoria Station gemietet; dorthin ging sie jeden Morgen, und jeden Abend wusch sie sich den Geruch von schalem Soldatenbier aus dem Haar.
    Sie ließ sich von Ned Quilley zum Lunch ins Bianchi ausführen und fand ihn sonderbar. Er schien sie vor etwas warnen zu wollen, doch als sie rundheraus fragte, wovor denn, hüllte er sich in Schweigen und erklärte, Politik sei jedermanns eigene Sache; dafür habe er im Krieg bei den Green-Jackets gekämpft. Dann betrank er sich ganz furchtbar. Nachdem sie ihm geholfen hatte, die Rechnung abzuzeichnen, mischte sie sich wieder unter die Menge auf der Straße und hatte das Gefühl, vor sich selbst herzulaufen; ihrer eigenen flüchtigen Gestalt zu folgen, die ihr in der dichten Menschenmenge immer wieder entschlüpfte. Ich bin vom Leben getrennt. Ich finde nie wieder zurück. Doch noch während sie dies dachte, spürte sie, wie eine Hand ihren Ellbogen streifte, Joseph einen Moment neben ihr herging und dann im Eingang von Marks & Sparks untertauchte. Sein unverhofftes Auftauchen hatte bald eine ganz ungewöhnliche Wirkung auf sie: Sie war dadurch unablässig auf der Hut und, wenn sie sich selbst gegenüber ehrlich war, auch voller Verlangen. Ein Tag ohne ihn war ein Un-Tag; erhaschte sie aber auch nur einen einzigen flüchtigen Blick von ihm, flogen ihm Herz und Körper zu wie bei einer Sechzehnjährigen.
    Sie las die seriösen Sonntagszeitungen, studierte die neuesten überraschenden Enthüllungen über die SackvilleWest - oder war es die Sitwell? - und wunderte sich darüber, wie hoch die herrschende englische Meinung die eigene Bedeutungslosigkeit einschätzte. Sie sah sich das von ihr bereits vergessene London an und fand überall ihre Persönlichkeit als Radikale, die sich dem Weg der Gewalt verschrieben hatte, bestätigt. Die Gesellschaft, wie sie sie kannte, war abgestorben; Charlies Aufgabe war es, sie zu beseitigen und den Boden für etwas Besseres zu bereiten. Die hoffnungslosen Gesichter der Leute, die sich beim Einkaufen wie geschlagene Sklaven durch die neonbeleuchteten Supermärkte schleppten, sagten ihr das, die verzweifelnden Alten und die Polizisten mit den giftigen Augen desgleichen. Ebenso die ziellos herumbummelnden schwarzen Jugendlichen, die die Rolls-Royces vorbeirauschen sahen und die schimmernden Banken mit ihrem Air verweltlichter Anbetung und ihren rechtschaffenen, leuteschindenden Managern vor Augen hatten. Die Baufirmen, die die Irregeleiteten in ihre Eigentumsfallen lockten; die Schnapsläden, die Wettbüros, der Auswurf - es brauchte nicht viel, und die ganze Londoner Szene bot sich Charlie als ein überquellender Mülleimer voller aufgegebener Hoffnungen und enttäuschter Seelen dar. Dank Michels Anregungen schlug sie im Geiste Brücken zwischen der kapitalistischen Ausbeutung der Dritten Welt und hier in ihrer unmittelbaren Umgebung, Camden Town.
    Da sie dies so eindeutig lebte, schickte ihr das Leben sogar das überfrachtete Symbol eines hilflos umher getriebenen Menschen. Als sie am Sonntag morgen zeitig einen Spaziergang am Treidelpfad des

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