Die Libelle
Regent’s Canal entlang machte - in Wirklichkeit war sie zu einem der wenigen verabredeten Treffen mit Joseph unterwegs -, hörte sie den Klang eines tiefen Saiteninstruments, das einen Negro-Spiritual sägte. Der Kanal erweiterte sich, und in der Mitte eines von aufgegebenen Speichern umrahmten Hafenbeckens sah sie einen alten Schwarzen, der direkt aus Onkel Toms Hütte kam, auf einem festgemachten Floß sitzen und einer Gruppe von hingerissen lauschenden Kindern auf dem Cello vorspielen. Eine Szene wie aus einem Fellini-Film; Kitsch; Fata Morgana; eine ihrem Unterbewussten entstiegene erleuchtete Vision.
Was immer es war, etliche Tage lang wurde es für sie zum persönlichen Bezugspunkt für alles, was sie um sich herum sah - zu persönlich, um selbst Joseph davon zu erzählen; sie hatte Angst, er würde sie auslachen oder, noch schlimmer, eine rationale Erklärung dafür anbieten.
Sie schlief ein paar Mal mit Al, weil sie keine Auseinandersetzung mit ihm wollte und weil ihr Körper ihn nach der langen Dürre mit Joseph brauchte; außerdem hatte Michel ihr das befohlen. Sie vermied jedoch, dass er sie in ihrer Wohnung besuchte, denn er hatte wieder einmal kein Dach überm Kopf, und sie fürchtete, dass er versuchen würde, bei ihr zu bleiben, was er früher schon öfter getan hatte, bis sie seine Kleider und seinen Rasierapparat auf die Straße geworfen hatte. Außerdem barg ihre Wohnung neue Geheimnisse, und nichts auf der Welt hätte sie dazu gebracht, sie mit ihm zu teilen: Ihr Bett war Michels Bett, seine Pistole hatte unter dem Kopfkissen gelegen, und es gab nichts, was Al oder sonst jemand tun konnte, um sie zu bewegen, es zu entweihen. Sie war auch vor Al auf der Hut, weil Joseph sie gewarnt hatte, dass aus seinem Filmangebot nichts geworden sei, und sie wusste aus Erfahrung, wie schlimm er werden konnte, wenn sein Stolz verletzt war. Ihr erstes leidenschaftliches Wiedersehen fand in einer Stammkneipe statt, wo sie den großen Philosophen von einer Schar seiner Jüngerinnen dicht umringt fand. Als sie auf ihn zuging, dachte sie: Er wird Michel riechen; er ist in meinen Kleidern, meiner Haut, meinem Lächeln. Aber Al war viel zu sehr damit beschäftigt, seine Gleichgültigkeit zu demonstrieren, um irgendetwas zu riechen. Mit dem Fuß schob er einen Stuhl für sie zurück, und beim Hinsetzen dachte sie: Gott bewahre, es ist noch keinen Monat her, da war dieser Zwerg mein Hauptberater, wenn es darum ging, was mit der Welt los ist. Als die Kneipe zumachte und sie in die Wohnung eines Freundes gingen und dessen zweites Zimmer mit Beschlag belegten, erschrak sie, als sie sich bei der Vorstellung ertappte, es sei Michel, der in ihr war, Michels Gesicht, das auf sie herab starrte, und Michels olivfarbener Körper, der sich ihr im Halbdunkel aufdrängte - Michel, ihr geliebter kleiner Killer, der sie in Ekstase versetzte. Dabei gab es hinter Michel noch einen anderen - Joseph, der endlich ihr gehörte; seine lodernde, aufgestaute Sexualität, für die es endlich kein Halten mehr gab; sein narbenbedeckter Körper und seine narbenbedeckte Seele, endlich ihr.
Bis auf sonntags las sie sporadisch kapitalistische Zeitungen, hörte die auf die Konsumenten zugeschnittenen Nachrichten im Radio, hörte aber nichts von einer rothaarigen Engländerin, die im Zusammenhang mit der illegalen Einfuhr hochexplosiven russischen Plastiksprengstoffs nach Österreich gesucht wurde. Dazu kam es nie. Das waren zwei völlig verschiedene junge Frauen, eines meiner kleinen Hirngespinste. Ansonsten interessierte sie der Zustand der größeren Welt um sie herum so gut wie gar nicht mehr. Sie las von einem palästinensischen Bombenattentat in Aachen und von einem israelischen Vergeltungsangriff auf irgendein Flüchtlingslager im Libanon, bei denen eine große Anzahl von Zivilisten den Tod gefunden haben sollte. Sie las von wachsender öffentlicher Empörung in Israel und erschauerte entsprechend bei einem Interview mit einem israelischen General, der versprach, das Palästinenser-Problem »von Grund auf zu lösen«. Doch nach ihrem Schnellkurs in Verschwörung hatte sie kein Vertrauen mehr zur offiziellen Darstellung der Ereignisse und würde es nie wieder haben. Die einzigen Nachrichten, die sie einigermaßen getreulich verfolgte, betrafen eine riesige Panda-Bärin im Londoner Zoo, die sich nicht paaren wollte, obwohl Feministinnen behaupteten, es sei Schuld des Männchens. Außerdem gehörte der Zoo zu Josephs Lieblingstreffpunkten. Sie
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