Die Libelle
zog den Vorhang vor, dann setzte er sich aufs Bett und zog die Schuhe aus, ohne die Schnürsenkel aufzumachen.
»Äh - übrigens - Gadi, vor ein paar Tagen habe ich von unseren Leuten in der Botschaft in Bonn gehört«, sagte Kurtz, als ob irgend etwas plötzlich die Erinnerung daran auffrischte. »Ich hatte sie gebeten, ein paar Erkundigungen über diese Polen anzustellen, mit denen du in Berlin zusammenarbeitest. Mal festzustellen, wie ihre Finanzlage ist.« Becker sagte nichts.
»Die Nachrichten waren anscheinend nicht so besonders ermutigend. Sieht so aus, als ob wir ein bisschen mehr Geld oder ein paar Polen mehr für dich finden müssten.«
Da er immer noch keine Antwort erhielt, hob Kurtz langsam den Kopf und sah, wie Becker ihn von der Tür her anstarrte; irgend etwas in der Haltung des größeren Mannes zeigte bemerkenswert deutlich, wie wütend er war.
»Möchten Sie mir etwas sagen. Mr. Becker? Möchten Sie mir eine Standpauke halten, die Sie in eine angenehme seelische Verfassung versetzt?«
Das war offenbar nicht der Fall. Becker machte leise die Tür hinter sich zu und war fort.
Kurtz musste noch ein letztes Telefongespräch führen: mit Gavron, und zwar über die Direktleitung zu ihm nach Hause. Er griff nach dem Hörer, zögerte und zog die Hand dann wieder zurück. Soll die kleine Krähe doch warten, dachte er, als der Zorn wieder in ihm aufwallte. Und rief ihn dann trotzdem an. Begann ganz sanft, alles fest in der Hand, nichts Unvernünftiges. So, wie sie immer anfingen. Sprachen englisch. Benutzten die Decknamen, auf die sie sich für diese Woche geeinigt hatten: »Nathan, hier ist Harry. Wie geht’s? Und deiner Frau? Danke, du sie auch von mir. Nathan, zwei kleine Bösewichter aus unserer Bekanntschaft haben sich plötzlich ganz schrecklich erkältet. Das wird bestimmt die Leute freuen, die von Zeit zu Zeit beruhigt werden müssen.« Während er Gavrons krächzender, unverbindlicher Antwort lauschte, spürte Kurtz, wie er anfing zu zittern. Trotzdem gelang es ihm, seine Stimme fest im Zaum zu halten. »Nathan, ich glaube, jetzt kommt dein großer Augenblick. Man ist es mir schuldig, dass du gewisse Druckmittel zurückhältst und die Sache reifen lässt. Da sind Versprechen gemacht und gehalten worden, ein gewisses Maß an Vertrauen ist jetzt gerechtfertigt, und ein kleines bisschen Geduld.« Unter all den Männern und Frauen, die er kannte, war Gavron der einzige Mensch, der ihn so weit reizte, dass er Dinge sagte, die er hinterher bereute. Noch hatte er sich in der Hand. »Rom ist auch nicht an einem Tag erbaut worden, Nathan. Ich brauche Luft, hörst du? Luft -ein bisschen Freiheit - einen gewissen Bewegungsfreiraum.« Sein Zorn wallte auf. »Halt also diese Verrückten in Schach, ja? Geh doch hin und verschaff mir zur Abwechslung mal etwas Unterstützung!«
Die Leitung war tot. Ob daran die Explosion schuld war oder Misha Gavron, sollte Kurtz nie erfahren, denn er machte nicht den Versuch, noch einmal anzurufen.
Teil II
Der Preis
Kapitel 16
Während in London der Sommer in den Herbst überging, befand sich Charlie drei endlose Wochen lang in einem halb unwirklichen Zustand, schwankte sie zwischen Fassungslosigkeit und Ungeduld, zwischen erregtem Bereitsein und krampfhaftem Entsetzen. Früher oder später holen sie dich, sagte er immer wieder. Das geht gar nicht anders. Und er machte sich daran, sie innerlich zu wappnen und aufzubauen.
Aber warum mussten sie sie eigentlich holen? Sie wusste es nicht, und er sagte es ihr nicht, benutzte aber sein Fernsein wie einen Schild. Ob wohl Mike und Marty Michel irgendwie an sich banden, so wie sie Charlie an sich gebunden hatten? An manchen Tagen stellte sie sich vor, dass Michel eines Tages die Fiktion, die sie für ihn aufgebaut hatten, einholen, bei ihr auftauchen und leidenschaftlich einfordern würde, was sie ihm als Geliebten schuldig war. Joseph bestärkte sie sanft in diesem gespaltenen Zustand und führte sie immer näher an seinen abwesenden Stellvertreter heran. Michel, ach mein geliebter Michel, komm zu mir. Liebe Joseph, aber träume von Michel. Zu Anfang hatte sie kaum in den Spiegel zu blicken gewagt, so sehr war sie davon überzeugt, dass ihr Geheimnis durchschimmerte. Ihr Gesicht war bis zum Zerreißen gespannt wegen der ungeheuerlichen Informationen, die sich unmittelbar unter der Oberfläche verbargen; ihre Stimme und ihre Bewegungen hatten eine Unterwasser-Langsamkeit, die sie weit vom Rest der Menschheit entfernte: Ich
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