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Die Libelle

Die Libelle

Titel: Die Libelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John le Carré
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trafen sich dort auf einer Bank, und sei es nur, um eine Zeitlang Händchen zu halten wie ein Liebespaar, ehe jeder wieder seines Weges ging.
    Bald, sagte er dann wohl. Bald.
    Charlie ließ sich auf diese Weise treiben, schauspielerte die ganze Zeit über für ein unsichtbares Publikum, wappnete sich mit jedem Wort und jeder Geste gegen eine momentane Unachtsamkeit und stellte dann fest, dass sie sich zunehmend auf ein Ritual stützte. Am Wochenende fuhr sie für gewöhnlich zu ihrem Jugend-Klub in Peckham, und in einer großen Halle mit gewölbter Decke, die so groß war, dass man darin Brecht hätte aufführen können, brachte sie diese Schauspiel-Gruppe von Jugendlichen wieder in Schwung, und sie
    genoss das. Sie planten für Weihnachten eine Rock-Pantomime, ein Stück reinster Anarchie.
    Freitags ging sie manchmal in Als Kneipe, und mittwochs nahm sie immer zwei Dreiviertelliter-Flaschen dunkles Ale zu Miss Dubber mit, einer abgetakelten Nutte, die gleich um die Ecke wohnte. Miss Dubber litt unter Arthritis, Rachitis und Holzwürmern sowie unter etlichen ernsthaften Gebrechen und verfluchte ihren Körper mit einem Eifer, wie sie ihn früher nur für knauserige Freier übrig gehabt hatte. Charlie revanchierte sich damit, dass sie Miss Dubbers Ohr mit wunderbaren erfundenen Geschichten über das skandalöse Geschehen in der Welt des Show-Business füllte; die beiden schütteten sich darüber so vor Lachen aus, dass die Nachbarn den Fernseher lauter stellten, um den Lärm zu übertönen. Sonst konnte Charlie keine Gesellschaft ertragen, obwohl ihre Arbeit als Schauspielerin sie mit einem Halbdutzend Cliquen bekannt gemacht hatte, bei denen sie sich jederzeit hätte melden können, wenn ihr danach gewesen wäre.
    Mit Lucy hielt sie ein Schwätzchen am Telefon, und sie nahmen sich vor, sich zu treffen, ließen es jedoch offen. Robert spürte sie in Battersea auf, doch die Mykonos-Clique war wie Schulfreunde von vor zehn Jahren; in ihrem Leben gab es nichts mehr, was sie mit ihnen teilen konnte. Sie traf sich mit Willy und Pauly zum Curry-Essen, doch die beiden dachten daran, sich zu trennen, und das Ganze war ein Reinfall. Sie versuchte es mit ein paar Busenfreunden aus früheren Existenzen, doch auch das war kein Erfolg, und danach wurde sie eine alte Jungfer. Wenn es eine Zeitlang nicht regnete, begoss sie die jungen Bäume in ihrer Straße und hängte in Drahtnetzen an der Fensterbank frische Nüsse für die Spatzen auf, denn das war eines der verabredeten Zeichen für ihn, genauso wie der ›Ent-rüstet euch‹ -Aufkleber an ihrem Auto und das Messing-›C‹ auf dem Lederanhänger ihrer Schultertasche. Er nannte das ihre Sicherheitssignale und probte wiederholt deren Anwendung mit ihr. Verschwand eines von ihnen, bedeutete das einen Hilfeschrei. Und in ihrer Handtasche hatte sie einen brandneuen weißen Seidenschal, aber nicht für die Kapitulation, sondern um zu sagen: ›Sie haben sich gemeldet‹ , falls das jemals der Fall sein sollte. Sie führte ihr kleines Tagebuch weiter und nahm die Eintragungen dort auf, wo der Bildungskreis aufgehört hatte, sie schloss die Reparatur eines Stickbildes ab, das sie gekauft hatte, ehe sie in Urlaub gegangen war, und das Lotte zeigte, wie sie sich am Grabe Werthers verzehrte. Wieder ich, diesmal in einer klassischen Rolle. Sie schrieb ihrem verschollenen Mann endlose Briefe, hörte jedoch nach und nach auf, sie einzuwerfen.
    Liebster Michel, ach, Michel, hab Erbarmen und kehr zu mir zurück!
    Aber sie hielt sich von den Versammlungsorten und alternativen Buchhandlungen in Islington fern, wo sie sich früher häufig zu schwunglosen Sitzungen bei Kaffee eingefunden hatte; vor allem aber machte sie einen Riesenbogen um die finstere St. Pancras-Gang, deren im Koksrausch geschriebene Flugblätter sie zu verteilen pflegte, weil niemand sonst das tun wollte. Von Eustace, ihrem Kfz-Mechaniker, bekam sie endlich ihr Auto, einen frisierten Fiat, zurück, den Al ihr zu Schrott gefahren hatte, und an ihrem Geburtstag nahm sie ihn das erste Mal wieder und fuhr damit zu ihrer Scheiß-Mutter nach Rickmansworth, um ihr die Tischdecke zu bringen, die sie auf Mykonos für sie gekauft hatte. In der Regel hatte sie großen Bammel vor diesen Besuchen: diese sonntäglichen Essens-Fallen mit dreierlei Gemüse und Rhabarbertorte als Dessert, der dann ihre Mutter im allgemeinen eine höchst detaillierte Zusammenfassung all dessen folgen ließ, was die Welt falsch gemacht hatte, seit sie zum

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