Die Libelle
als sei sie mit dem Zählen des Kleingelds beschäftigt.
Nach Hause zu gehen erforderte mehr Mut, als sie hatte, mehr Mumm, als Joseph von ihr erwarten durfte, und so flehte sie den ganzen Weg über, sie möge sich den Fuß brechen, von einem Bus überfahren werden oder das Bewusstsein verlieren, wie es ihr sonst manchmal gelang. Es war sieben Uhr abends, und in der Kneipe war gerade Flaute. Der Koch grinste sie strahlend an, und sein frecher Freund winkte ihr wie gewöhnlich zu, als wäre sie nicht ganz richtig im Kopf. Als sie endlich drin war, knipste sie nicht wie sonst das Licht an, sondern setzte sich aufs Bett, zog auch die Vorhänge nicht zu, sondern beobachtete im Spiegel, wie zwei Männer auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig müßig auf und ab gingen, nie ein Wort miteinander wechselten und nie zu ihr hinaufsahen. Michels Briefe waren immer noch in ihrem Versteck unter dem Dielenbrett; desgleichen ihr Pass und ihre Kampfreserve. Dein Pass ist jetzt ein gefährliches Dokument , hatte Joseph sie gewarnt, als er sie eindringlich über den neuen Status belehrt hatte, den sie seit Michels Tod hatte; er hätte nie zulassen dürfen, dass du ihn auf der Fahrt benutzt. Dein Pass muss genauso gehütet werden wie deine anderen Geheimnisse.
Cindy, dachte Charlie.
Cindy stammte aus dem Norden Englands und half nachts in der Kneipe aus. Ihr westindischer Freund saß wegen schwerer Körperverletzung im Gefängnis, und Charlie gab ihr gelegentlich kostenlos Gitarrenunterricht, um ihr zu helfen, die Zeit totzuschlagen. »Cind«, schrieb sie. »Hier ein Geburtstagsgeschenk für Dich, egal, wann Du Geburtstag hast. Nimm sie mit nach Hause und üb darauf, bis Du halb tot bist. Begabung hast Du, gib also nicht auf! Nimm auch die Notentasche mit. Blöderweise habe ich den Schlüssel bei meiner Mum vergessen. Wenn ich sie das nächste Mal besuche, bringe ich ihn mit. Aber für diese Lieder bist Du sowieso noch nicht weit genug. Herzlichst, Chas.«
Die Notentasche war die strapazierfähige Aktenmappe aus den 30er Jahren ihres Vaters mit stabilen Schlössern und haltbaren Nähten. Sie verstaute Michels Briefe, ihr Geld und ihren Pass sowie eine Menge Noten darin. Und trug sie zusammen mit ihrer Gitarre hinunter.
»Das hier ist alles für Cindy«, sagte sie dem Koch, der sich daraufhin vor Lachen kaum noch halten konnte und die Sachen ins Damenklo stellte, wo schon der Staubsauger und die leeren Flaschen standen.
Charlie ging wieder nach oben, knipste das Licht an, zog die Vorhänge zu und legte sich ihre Kriegsbemalung zu, denn heute war Peckham-Abend. Weder alle Bullen auf Erden noch all ihre toten Liebhaber konnten sie davon abhalten, mit ihrer Jugendgruppe die Pantomime einzuüben. Kurz nach elf war sie wieder zu Hause; der Bürgersteig gegenüber war leer, und Cindy hatte Gitarre und Notentasche mitgenommen. Sie rief Al an, weil sie plötzlich verzweifelt einen Mann brauchte. Keine Antwort. Der Scheißkerl vögelt wieder irgendwo rum. Daraufhin rief sie noch ein paar von ihren Freunden an, die sie in Reserve hielt, doch ohne Erfolg. Das Telefon klingelte so komisch, aber in dem Zustand, in dem sie sich befand, konnte es auch an ihr liegen. Kurz vor dem Zubettgehen warf sie noch einmal einen Blick zum Fenster hinaus, und da hatten ihre beiden Wächter wieder auf dem Bürgersteig Stellung bezogen. Am nächsten Tag passierte gar nichts. Nur, als sie in der vagen Hoffnung, Al dort zu finden, Lucy besuchte, sagte diese ihr, Al sei wie vom Erdboden verschluckt, sie habe bereits bei der Polizei, in sämtlichen Krankenhäusern und bei allen Bekannten angerufen. »Versuch’s doch mal im Tierhort Battersea für streunende Hunde«, riet ihr Charlie. Doch als sie wieder in ihre eigene Wohnung zurückgekehrt war, rief nach kurzer Zeit ihr alter schrecklicher Al an, und zwar im Zustand alkoholisierter Hysterie.
»Komm auf der Stelle her, Weib. Red nicht, sondern komm, und zwar sofort !«
Sie ging und wusste, dass es wieder so etwas war. Wusste, dass es in ihrem Leben jetzt keine Ecke mehr gab, in der nicht Gefahr lauerte.
Al war bei Willy und Pauly untergekrochen, die nun doch nicht auseinander gehen wollten. Als Charlie hinkam, stellte sie fest, dass er seinen ganzen Fan-Klub zusammengetrommelt hatte. Robert hatte eine neue Freundin mitgebracht, ein schwachsinniges Mädchen namens Samantha mit weißem Lippenstift und malvenfarbenem Haar. Doch wie üblich war es Al, der die Bühne beherrschte. »Du kannst mir erzählen, was du
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