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Die Libelle

Die Libelle

Titel: Die Libelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John le Carré
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oder weiter oben an der Straße, wo du wohnst.
    Niemals, hören Sie? Die sind alle außerordentlich gefährlich. Die Bullen können eine Leitung in Null Komma nichts anzapfen, da können Sie ganz sicher sein. Und niemals dasselbe Telefon zweimal benutzen. Hören Sie, Charlie?/p>
    Ja, Helg, ich höre dich sehr gut.
    Sie trat auf die Straße hinaus und sah einen Mann, der in ein unbeleuchtetes Schaufenster starrte, während ein zweiter sich von ihm entfernte und auf ein Auto mit Antenne zuging. Jetzt hatte der Schrecken sie gepackt, und es war so schlimm, dass sie sich am liebsten wimmernd aufs Pflaster gelegt, alles gestanden und die Welt gebeten hätte, sie in Gnaden wieder aufzunehmen. Die Leute vor ihr waren genauso bedrohlich wie die Leute hinter ihr, die gespenstischen Linien des Bordsteins führten zu irgendeinem schrecklichen, verschwindenden Punkt, der ihr eigener Untergang war. Helga, flehte sie; ach, Helga, hol mich hier raus! Sie nahm einen Bus, der in die falsche Richtung fuhr, wartete, nahm einen anderen und ging wieder zu Fuß weiter, mied jedoch die U-Bahn, weil der Gedanke, irgendwo unter der Erde zu sein, ihr Angst machte. Folglich wurde sie schwach, nahm sich wieder ein Taxi und schaute zum Rückfenster hinaus. Niemand folgte ihr. Die Straße war leer. Zum Teufel mit dem Zu-Fuß-Gehen, zum Teufel mit der U-Bahn und mit den Bussen.
    »Nach Peckham«, sagte sie zu dem Fahrer und fuhr großartig vor. Der Saal, in dem sie probten, lag hinter einer Kirche, ein scheunenartiges Ding neben einem Abenteuerspielplatz, auf dem die Kinder schon vor langer Zeit alles kurz und klein geschlagen hatten. Um dort hinzukommen, musste sie an einer Reihe von Eiben entlanggehen. Nirgends war Licht, doch sie drückte wegen Lofty auf die Klingel. Lofty, ein ehemaliger Boxer, war der Nachtwächter, der seit den Geldkürzungen jedoch höchstens dreimal in der Woche kam. Ihr fiel ein Stein von der Seele, als sich auf ihr Klingeln hin keine Schritte vernehmen ließen. So schloss sie auf und trat ein. Die kalte abgestandene Luft erinnerte sie an die Kirche in Cornwall, die sie betreten hatte, nachdem sie ihr Gebinde auf das Grab des unbekannten Revolutionärs gelegt hatte. Sie zog die Tür hinter sich zu und riss ein Streichholz an. Das Flämmchen spiegelte sich flackernd in den glänzenden grünen Kacheln und dem hohen Gewölbe der viktorianischen Deckenkonstruktion aus Fichtenholz. Um sich bei Laune zu halten, rief sie lustig »Loftiii«. Das Streichholz ging aus, doch sie fand die Kette an der Tür und ließ sie in der Gleitschiene einrasten, ehe sie ein neues Streichholz anzündete. Ihre Stimme, ihre Schritte und das Gerassel der Kette hallten in dem pechdunklen Raum noch stundenlang wie verrückt wider.
    Sie dachte an Fledermäuse und andere Widerwärtigkeiten; daran, dass ihr Tang übers Gesicht gezogen wurde. Eine Treppe mit eisernem Handlauf führte auf eine hölzerne Empore hinauf, die schönfärberisch »Gemeinschaftsraum« genannt wurde und die sie seit ihrem heimlichen Besuch in der Münchener Atelierwohnung an Michel erinnerte. Sie griff nach dem Geländer und ging daran nach oben, stand dann regungslos auf der Empore, starrte hinunter ins Dunkel des Saals und horchte, bis sich ihre Augen an das Dunkel gewöhnt hatten. Sie erkannte die Bühne, dann die wallenden psychedelischen Wolken, die den Hintergrund ihres Bühnenbilds bildeten, dann die Tragebalken und das Dach. Sie entdeckte den silbernen Schimmer ihres einzigen Scheinwerfers, ein umgebauter Autoscheinwerfer, den ein Junge namens Gums von den Bahamas auf einem Autofriedhof geklaut hatte. Auf der Empore stand ein altes Sofa und daneben ein Tisch mit einer hellen Plastikplatte, in der sich der durch das Fenster hereinfallende Helligkeitsschimmer der Stadt fing. Auf dem Tisch stand ein schwarzes, ausschließlich für den dienstlichen Gebrauch bestimmtes Telefon, und daneben lag das Schulheft, in das man Privatgespräche eintragen sollte, über die mindestens sechsmal jeden Monat großes Geschrei angestimmt wurde. Charlie saß auf dem Sofa und wartete, bis ihr Magen sich entkrampft und ihr Pulsschlag unter die Dreihundertgrenze gerutscht war. Dann hob sie das Telefon samt Hörer vom Tisch herunter und stellte es auf den Boden. In der Tischschublade waren immer ein paar Haushaltskerzen gewesen, falls die Beleuchtung mal ausfiel, was häufig der Fall war, aber jemand hatte auch die mitgehen lassen. So blieb ihr nichts anderes übrig, als die Seite eines alten

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