Die Libelle
seinen Augen in die Kneipe und knallte im Laufen die Tür hinter sich ins Schloss. Das Lokal war leer, die Geräte waren ausgeschaltet. Ihre Wohnungstür war geschlossen, doch hörte sie dahinter das Gemurmel von Männerstimmen. Unten schrie der Wachtmeister und hämmerte gegen die Tür. Sie hörte: » Sie ! Lassen Sie das. Kommen Sie raus!« Aber nur ganz leise. Sie dachte: Schlüssel, und machte die Handtasche auf. Sah das weiße Kopftuch und setzte das statt dessen auf, ein fliegender Kostümwechsel zwischen zwei Szenen. Dann klingelte sie, zweimal und sehr zuversichtlich. Und hob dann die Klappe ihres Briefschlitzes in die Höhe.
»Chas? Bist du da? Ich bin’s, Sandy.«
Totenstille plötzlich, dann Schritte und ein geflüstertes: »Harry, schnell!« Die Tür ging zögernd auf, und sie starrte einem grauhaarigen, wilden kleinen Mann in grauem Anzug in die Augen. Hinter ihm sah sie überall verstreut die Reste dessen, was ihr von Michel geblieben war, ihr Bett war hochkam gestellt, die Poster von den Wänden genommen, der Teppich aufgerollt und die Dielenbretter geöffnet. Sie sah eine nach unten gerichtete Kamera auf einem Stativ und einen zweiten Mann, der durch den Sucher spähte, darunter waren etliche von den Briefen ihrer Mutter ausgebreitet. Sie sah Meißel und Zangen, und ihr Möchtegern-Aufreißer mit der Omabrille aus dem Kino, der zwischen einem Haufen ihrer teuren neuen Kleider kniete, und sie erkannte auf einen Blick, dass sie nicht in die Untersuchung hineingeplatzt war, sondern in den Einbruch.
»Ich suche meine Schwester Charmian«, sagte sie. »Wer um alles auf der Welt sind Sie?« »Sie ist nicht hier«, erwiderte der Grauhaarige, und Charlie bekam eine Spur Waliser Akzent mit und bemerkte Kratzspuren an seinem Kinn.
Während er sie noch immer anblickte, hob er die Stimme und bellte fast: »Sergeant Mallis! Sergeant Mallis, schaffen Sie die Dame hier raus, und nehmen Sie ihre Personalien auf.« Die Tür wurde ihr vor der Nase zugeschlagen. Von unten hörte sie den glücklosen Sergeant immer noch lauthals schreien. Leise stieg sie die Treppe hinunter, ging aber nur bis zur Mute des Hausflurs. Dort zwängte sie sich zwischen Haufen von Pappkartons zur Hoftür durch, die zwar verriegelt, aber nicht abgeschlossen war. Der Hof führte auf einen Garagenplatz und der Garagenplatz auf die Straße, in der Miss Dubber wohnte. Als sie an deren Fenster vorüberkam, klopfte Charlie dagegen und winkte ihr fröhlich zu. Wie sie das schaffte, woher sie ihre Geistesgegenwart hatte, sollte sie nie erfahren. Sie ging weiter, und keine Schritte oder wütenden Stimmen folgten ihr, kein Auto hielt mit quietschenden Bremsen neben ihr. Sie erreichte die Hauptstraße, und irgendwo unterwegs streifte sie einen Lederhandschuh über; wie Joseph ihr gesagt hatte, sollte sie das tun, falls und wenn sie sie jagten. Sie sah ein leeres Taxi und winkte es heran. Nun, dachte sie erheitert, da wären wir alle. Erst viel, viel später in einem ihrer vielen Leben kam ihr der Gedanke, dass sie sie möglicherweise absichtlich hatten laufen lassen. Joseph hatte erklärt, auf ihren Fiat dürfe sie auf gar keinen Fall zurückgreifen, und widerstrebend sah sie ein, dass er recht hatte. So bewegte sie sich etappenweise weiter und überstürzte nichts. Das redete sie sich selbst ein. Nach dem Taxi nehmen wir einen Bus, sagte sie sich, gehen ein Stück zu Fuß und fahren dann mit der U-Bahn. In ihrem Kopf war alles glasklar, nur musste sie ihre Gedanken hintereinander kriegen; ihre Heiterkeit hatte sich nicht gelegt; sie wusste, dass sie sich ihrer Reaktionen ganz sicher sein musste, ehe sie ihren nächsten Schritt machte, denn wenn sie dies jetzt verpatzte, verpatzte sie alles. Joseph hatte ihr das gesagt, und sie glaubte ihm. Ich bin auf der Flucht. Sie sind hinter mir her. Himmel, Helg, was mach’ ich nur?
Diese Nummer dürfen Sie nur im äußersten Notfall anrufen, Charlie. Wenn Sie anrufen, und es war gar nicht unbedingt nötig, werde ich sehr böse, hören Sie?
Ja, Helg, ich hab’ verstanden.
Sie saß in einem Pub, trank einen von Michels Wodkas und rief sich den Rest jenes kostenlosen Rats ins Gedächtnis, den Helga ihr gegeben hatte, als Mesterbein draußen im Auto gehockt hatte. Überzeuge dich, dass niemand dir folgt. Benutze nicht das Telefon von Freunden oder von deiner Familie. Und ruf auch nicht von der Telefonzelle an der Ecke an oder von der Zelle auf der anderen Straßenseite oder von der weiter unten an der Straße
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