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Die Libelle

Die Libelle

Titel: Die Libelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John le Carré
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Stock stützte.
    »Wissen Sie, was es für uns bedeutet, wenn wir nach Hause gehen?« fragte er, sie immer noch nicht aus den Augen lassend. Sein Stock jedoch zeigte auf das große Fenster. »Können Sie sich vorstellen, was es bedeutet, im eigenen Land zu sein, unter den eigenen Sternen, auf dem eigenen Grund und Boden, ein Gewehr in der Hand, zu stehen und nach dem Unterdrücker Ausschau zu halten? Fragen Sie die Jungs.«
    Wie andere Stimmen, die sie kannte, hörte sich seine Stimme im Dunkeln noch schöner an.
    »Sie mochten Sie«, sagte er. »Haben Sie sie auch gemocht?«
    »Ja.«
    »Wer hat Ihnen am besten gefallen?«
    »Alle gleich«, sagte sie, und er lachte wieder. »Man behauptet, dass Sie sehr in Ihren toten Palästinenser verliebt seien. Stimmt das?«
    »Ja.« Sein Stock zeigte immer noch auf das Fenster. »Früherwenn Sie den Mut dazu hätten - hätten wir Sie mitgenommen. Über die Grenze. Angriff. Rache. Wieder zurück. Feiern. Wir würden zusammen gehen. Helga sagt, Sie wollen kämpfen. Wollen Sie kämpfen?«
    »Ja.«
    »Gegen jeden oder nur gegen die Zionisten?« Er wartete ihre Antwort nicht ab. Er trank. »Manche von dem Abschaum, den wir bekommen, möchten am liebsten die ganze Welt in die Luft jagen. Sind Sie auch so?«
    »Nein.«
    »Sie sind Abschaum, diese Leute. Helga - Mr. Mesterbein -notwendiger Abschaum. Ja?«
    »Ich hatte nicht genug Zeit, das herauszufinden«, sagte sie.
    »Gehören Sie zum Abschaum?«
    »Nein.«
    Das Licht ging wieder an. »Nein«, pflichtete er ihr bei und prüfte sie weiter. »Nein, ich glaube auch nicht. Aber vielleicht verändern Sie sich. Haben Sie jemals einen Menschen getötet?«
    »Nein.«
    »Sie sind in einer glücklichen Lage. Sie haben eine Polizei. Ihr eigenes Land. Das Parlament. Rechte. Pässe. Wo leben Sie?«
    »In London.«
    »Und in welchem Teil?«
    Sie hatte das Gefühl, dass seine Verwundungen ihn mit ihren Antworten ungeduldig machten; dass sie seine Gedanken schon immer über sie hinausgehen ließen, zu neuen Fragen. Er hatte einen hohen Stuhl gefunden und zog ihn achtlos zu ihr hin, doch keiner der Jungen stand auf, um ihm zu helfen, und sie vermutete, dass sie es nicht wagten. Als er den Stuhl dort hatte, wo er ihn haben wollte, zog er noch einen zweiten heran, dann setzte er sich auf den einen und schwang sein Bein auf den anderen. Und als er das alles geschafft hatte, zog er eine einzelne Zigarette aus der Tasche seines Uniformrocks und steckte sie sich an.
    »Sie sind die erste Engländerin, wissen Sie das? Holländer, Italiener, Franzosen, Deutsche, Schweden. Ein paar Amerikaner. Iren. Sie kommen alle, um für uns zu kämpfen. Bloß keine Engländer. Bis jetzt jedenfalls nicht. Die Engländer kommen wie immer zu spät.«
    Eine Woge des Erkennens ging über sie hinweg. Wie Joseph sprach er von Schmerzen, die sie nicht kannte, von einem Standpunkt aus, den sie erst kennen lernen musste. Er war nicht alt, aber er besaß eine Weisheit, die zu früh erworben worden war. Ihr Gesicht war dicht an der kleinen Lampe. Vielleicht war das der Grund, warum er sie dorthin gesetzt hatte. Captain Tayeh ist ein sehr kluger Mann. »Wenn Sie die Welt verändern wollen - vergessen Sie’s«, meinte er. »Die Engländer haben das bereits getan. Bleiben Sie zu Hause. Spielen Sie Ihre kleinen Rollen. Bilden Sie sich in einem Vakuum weiter. Das ist sicherer.«
    »Jetzt ist es das nicht«, sagte sie.
    »Oh, Sie könnten zurückkehren.« Er trank etwas Whisky. »Gestehen Sie. Bessern Sie sich. Ein Jahr Gefängnis. Jeder sollte ein Jahr im Gefängnis zubringen. Warum wollen Sie sich umbringen, indem Sie für uns kämpfen?« »Für ihn«, sagte sie.
    Ärgerlich fegte Tayeh ihre romantische Schwärmerei mit der Zigarette beiseite. »Sagen Sie mir, was heißt für ihn? Er ist tot. In ein, zwei Jahren werden wir alle tot sein. Was heißt für ihn?«
    »Alles. Er hat es mich gelehrt.«
    »Hat er Ihnen gesagt, was wir machen - Bomben legen? -schießen? - töten?..Aber ist egal.«
    Eine Zeitlang beschäftigte ihn allein seine Zigarette. Er verfolgte, wie sie verglühte, inhalierte den Rauch und blickte das glimmende Ende finster an; dann drückte er sie aus und zündete sich eine neue an. Sie vermutete, dass er eigentlich nicht gern rauchte. » Was konnte er Ihnen beibringen?« wandte er ein. »Einer Frau wie Ihnen? Er war ein kleiner Junge. Er konnte niemand etwas beibringen. Er war nichts.«
    »Er war alles«, wiederholte sie unergründlich, und wieder spürte sie, dass er das

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