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Die Libelle

Die Libelle

Titel: Die Libelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John le Carré
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zusammengebunden, hing vom Lenker herab. Und auf dem Sattel Dimitri, der voller Ernst auf das Motorengeräusch horchte. Er trug die Halbuniform eines palästinensischen Soldaten und um den Hals eine rote Kaffiyeh . Durch das Achselstück seines Khakihemds hatte er sich, als war’s ein Unterpfand von einem Mädchen, einen Zweig weißblühender Heide gesteckt, um ihr zu sagen: »Wir sind bei dir«, denn weiße Heide war das Zeichen, nach dem sie während der letzten vier Tage Ausschau gehalten hatte.
    Von jetzt an findet das Pferd seinen Weg selbst , hatte Joseph ihr gesagt; deine Aufgabe ist es, im Sattel zu bleiben .
    Und wieder bildeten sie eine Familie und warteten.
    Ihr Zuhause war diesmal ein kleines Haus in der Nähe von Sidon mit einer Betonveranda, die eine Granate von einem israelischen Kriegsschiff in zwei Teile gerissen hatte; und nun ragten verrostete Enden der Eisenmatte wie die Fühler eines Rieseninsekts daraus hervor. Der Garten hinten war ein Mandarinenhain, in dem eine alte Gans an heruntergefallenen Früchten herumpickte; der Vorgarten war eine Halde aus Schlamm und Metall und während der letzten oder fünftletzten Invasion eine berühmte Feuerstellung gewesen. Auf der Wiese daneben stand das Wrack eines Panzerwagens, in dem eine Schar gelber Hühner und ein Flüchtlingsspaniel mit vier dicken Welpen wohnten. Hinter dem Panzerwagen lag das blaue christliche Meer von Sidon mit seiner Kreuzfahrerburg, die wie eine Strandburg aus dem Hafenviertel herausragte. Charlie hatte aus Tayehs offenbar unerschöpflichem Vorrat an Jungen zwei neue bekommen: Kareem und Yasir. Kareem war pummelig, spielte ständig den Clown und zog immer eine Schau ab, als ob seine Maschinenpistole verdammt schwer sei; er blähte jedes Mal die Backen auf und verzerrte das Gesicht, wenn er gezwungen war, sie zu schultern. Wenn sie ihn jedoch voller Mitgefühl anlächelte, wurde er verlegen und eilte davon, um sich Yasir anzuschließen. Er hatte den Ehrgeiz, Ingenieur zu werden. Er war neunzehn und kämpfte seit sechs Jahren. Englisch sprach er immer nur im Flüsterton und flocht an den passendsten und unpassendsten Stellen ein ›mal‹ ein. »Wenn Palästina mal frei ist, studiere ich mal in Jerusalem«, sagte Kareem. »Bis es soweit ist« - er legte die ausgestreckte Hand schief und seufzte angesichts dieser schrecklichen Aussicht -»vielleicht Leningrad, vielleicht Detroit.«
    Ja, bestätigte Kareem höflich, er habe mal einen Bruder und eine Schwester gehabt, doch seine Schwester sei bei einem zionistischen Luftangriff auf das Lager in Nabatiyeh ums Leben gekommen. Sein Bruder war nach Rashidiyeh verlegt und dort drei Tage später bei einer Beschießung von See her getötet worden. Er beschrieb diese Verluste sehr bescheiden, als ob sie in der allgemeinen Tragödie nicht viel zählten.
    »Palästina ist mal eine kleine Katze«, erzählte er Charlie eines Morgens geheimnisvoll, als sie geduldig in einem sich bauschenden weißen Nachthemd am Schlafzimmerfenster stand, während er seine Maschinenpistole schussbereit hielt. »Sie muss mal viel gestreichelt werden, sonst dreht sie durch.«
    Er habe einen böse aussehenden Mann auf der Straße gesehen, erklärte er, und sei heraufgekommen, um nachzusehen, ob er ihn umbringen solle.
    Yasir mit den tiefen Brauenwülsten eines Boxers und einem stechenden, flackernden Blick konnte sich überhaupt nicht mit ihr verständigen. Er trug ein rotkariertes Hemd und eine schwarze Kordel um die Schulter geschlungen, um seine Zugehörigkeit zum Militärischen Abwehrdienst kundzutun, und wenn es dunkelte, stand er im Garten und suchte das Meer nach zionistischen Angreifern ab. Er sei ein großer Kommunist, erklärte Kareem verständnisvoll, und er werde den Kolonialismus überall in der Welt vernichten. Yasir hasse Europäer und Amerikaner, selbst wenn sie behaupteten, Palästina zu lieben, sagte Kareem. Seine Mutter und seine ganze Familie seien in Tal al-Zataar umgekommen. Durch was? fragte Charlie.
    Durst, sagte Kareem und erklärte ihr ein kleines Stück Zeitgeschichte: Tal al-Zataar - Thymian-Hügel - sei ein Flüchtlingslager in Beirut. Hütten mit Blechdächern, oft elf Menschen in einem Raum. Dreißigtausend Palästinenser und arme Libanesen hätten dort siebzehn Monate lang bei ununterbrochener Beschießung ausgehalten. Wer denn geschossen habe, wollte Charlie wissen. Diese Frage verwirrte Kareem. Die von der Kata’ib, sagte er, als ob das doch auf der Hand liege. Faschistische

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