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Die Libelle

Die Libelle

Titel: Die Libelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John le Carré
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maronitische Freischärler, die von den Syrern und zweifellos auch von den Zionisten unterstützt würden. Tausende seien dabei umgekommen, doch wie viel genau, wisse niemand, sagte er; weil nur so wenige übrig geblieben seien, denen sie gefehlt hätten. Als die Angreifer ins Lager eingedrungen seien, hätten sie auch die letzten Überlebenden niedergemacht. Ärzte und Schwestern seien herausgeholt, in einer Reihe aufgestellt und dann gleichfalls erschossen worden, was nur logisch gewesen sei, denn schließlich hätten sie keine Medikamente, kein Wasser und keine Patienten mehr gehabt. »Warst du dabei?« fragte Charlie Kareem. Nein, entgegnete er; aber Yasir.
    »In Zukunft legen Sie sich nicht mehr in die Sonne«, befahl Tayeh, als er am nächsten Abend kam, um sie abzuholen. »Wir sind hier nicht an der Riviera.«
    Sie sollte Kareem und Yasir nie wiedersehen. Nach und nach geriet sie genau in jenen Zustand, den Joseph vorhergesagt hatte. Sie wurde an die Tragödie gewöhnt, und die Tragödie befreite sie von der Notwendigkeit, sich zu erklären. Sie war eine Reiterin mit Scheuklappen, die durch Ereignisse und Emotionen geleitet wurde, die zu groß waren, als dass sie sie in ihrem ganzen Ausmaß hätte begreifen können, die in ein Land geführt wurde, in dem die Tatsache, anwesend zu sein, bereits Teil einer ungeheueren Ungerechtigkeit war. Sie hatte sich den Opfern angeschlossen und fand sich schließlich mit ihrem Verrat ab. Mit jedem Tag, der verging, wurde die Fiktion ihrer vorgeblichen Treue zu Michel fester in den Tatsachen verankert, wohingegen ihre Treue zu Joseph - falls die keine Fiktion war - nur als ein heimliches Zeichen auf ihrer Seele überlebte. »Bald werden wir alle mal tot sein«, sagte Kareem, wie ein Echo auf Tayehs Ausspruch. »Die Zionisten werden uns alle zu Tode Völkermorden, du wirst mal sehen.«
    Das alte Gefängnis lag in der Mitte der Stadt, und es sei, hatte Tayeh dunkel gesagt, die Stätte, an der die Unschuldigen ihr Lebenslänglich absäßen. Um hinzukommen, mussten sie das Auto auf dem Hauptplatz abstellen und ein Gewirr von alten Gassen betreten, die zwar zum Himmel offen waren, jedoch mit plastikgeschützten Spruchbändern vollhingen, die sie zuerst für trocknende Wäsche gehalten hatte. Es war die Abendstunde, wo man kaufte und verkaufte; Läden und Stände waren voll. Die Straßenlampen leuchteten tief in den alten Marmor der Hauswände hinein, so dass es aussah, als wären sie von innen beleuchtet. Der Lärm in den Gassen war zerrissen und verstummte manchmal, wenn sie um eine Ecke bogen, so dass sie dann nur noch ihre eigenen Schritte auf dem glänzenden Straßenpflaster klicken und schlurfen hörten. Ein feindselig blickender Mann in ausgebeulten Hosen führte sie. »Ich habe dem Verwalter gesagt, Sie seien eine Journalistin aus Europa«, erklärte ihr Tayeh, während er neben ihr her humpelte.
    »Sein Benehmen Ihnen gegenüber ist nicht gerade freundlich, denn er hat etwas gegen diejenigen, die herkommen, um ihr zoologisches Wissen zu vergrößern.«
    Der zerrissene Mond hielt Schritt mit ihnen; der Abend war sehr heiß. Sie betraten einen anderen Platz, und ein Schwall arabischer Musik aus Lautsprechern, die provisorisch auf Pfählen installiert waren, begrüßte sie. Das hohe Tor stand offen und ging auf einen hell erleuchteten Hof, von dem aus eine Steintreppe zu übereinander hängenden Laubengängen nach oben führte. Die Musik war noch lauter.
    »Wer sind sie denn?« fragte Charlie. »Was haben sie getan?«
    »Nichts. Darin besteht ihr Verbrechen. Es sind die Flüchtlinge, die aus den Flüchtlingslagern hierher geflüchtet sind«, erwiderte Tayeh. »Das Gefängnis hat dicke Mauern und stand leer, daher haben wir es in Besitz genommen, um sie zu beschützen. Grüßen Sie die Leute ernst«, fügte er hinzu. »Lächeln Sie nicht allzu bereitwillig, sonst glauben sie, Sie machten sich über ihr Elend lustig.«
    Ein alter Mann saß auf einem Küchenstuhl und sah sie blicklos an. Tayeh und der Verwalter traten auf ihn zu, um ihn zu begrüßen. Charlie sah sich um. So was bekomme ich alle Tage zu sehen. Ich bin eine abgebrühte europäische Journalistin, die denen, die alles haben und trotzdem unglücklich sind, klarmacht, was Elend und Mangel wirklich bedeuten.
    Sie stand in der Mitte eines riesigen Steinsilos, dessen uralte Mauern bis zum Himmel hinauf mit Käfigtüren und Laubengängen bepflastert waren. Frisch aufgetragene weiße Tünche bedeckte alles und erweckte

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