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Die Libelle

Die Libelle

Titel: Die Libelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John le Carré
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die Illusion von Hygiene. Die Zellen zu ebener Erde waren Gewölbenischen. Die Türen standen wie einladend auf, die Gestalten darin schienen zuerst vollkommen regungslos. Selbst die Kinder bewegten sich, als dürften sie keine überflüssige Bewegung machen. Vor jeder Zelle hingen Wäscheleinen; ihre Symmetrie vermittelte den stolzen Wettstreit dörflichen Lebens. Charlie hatte den Geruch von Kaffee, offenen Abflussrohren und großer Wäsche in der Nase. Tayeh und der Verwalter kehrten zurück. »Warten Sie ab, bis man Sie anspricht«, riet Tayeh ihr nochmals. »Gehen Sie nicht unbekümmert auf diese Menschen zu, das verstehen sie nicht. Was Sie hier sehen, ist eine schon halb ausgestorbene Spezies.« Sie stiegen eine Marmortreppe hinauf. Die Zellen dieses Stockwerks hatten dicke Türen mit Gucklöchern für die Wärter. Der Lärm schien mit der Hitze größer zu werden. Eine Frau, die ganz in bäuerliche Tracht gekleidet war, ging an ihnen vorüber. Der Verwalter sprach sie an, und sie zeigte den offenen Gang entlang auf ein handgemaltes Zeichen in arabischer Schrift, das wie ein primitiver Pfeil aussah. Als Charlie in das Brunnenloch hinunterspähte, sah sie, dass der alte Mann wieder auf seinem Stuhl saß und ms Nichts starrte. Er hat sein Tagewerk vollbracht, dachte sie. Er hat uns gesagt: »Geht hinauf!« Sie kamen bei dem Pfeil an, folgten der angegebenen Richtung, stießen wieder auf einen Pfeil und gelangten bald in den eigentlichen Mittelpunkt des Gefängnisses. Um hier wieder herauszufinden, brauche ich einen Faden, dachte sie. Sie sah Tayeh an, doch er wollte sie nicht ansehen. Legen Sie sich in Zukunft nicht mehr in die Sonne. Sie betraten einen ehemaligen Aufenthaltsraum für die Wächter oder eine Kantine. In der Mitte stand ein mit Plastikstoff bespannter Untersuchungstisch und daneben, auf einem neuen Rolltisch, Medikamente, Behälter mit Tupfern und Spritzen. Ein Mann und eine Frau behandelten; die schwarzgekleidete Frau tupfte einem Baby gerade mit einem Wattebausch die Augen ab. Die wartenden Mütter saßen geduldig an den Wänden; ihre Kinder dösten und quengelten. »Bleiben Sie hier stehen«, befahl Tayeh, ging diesmal selbst vor und ließ den Verwalter und Charlie stehen. Doch die Frau hatte ihn bereits hereinkommen sehen; ihre Augen blickten zu ihm auf, dann richtete sie den Blick auf Charlie und ließ ihn bedeutsam und fragend zugleich auf ihr ruhen. Sie trat ans Waschbecken, wusch sich systematisch die Hände und studierte Charlie dabei im Spiegel. »Folgen Sie uns«, sagte Tayeh.
    Jedes Gefängnis hat so einen kleinen hellen Raum mit Plastikblumen und einem Foto aus der Schweiz, einen Raum, in dem man Leute empfangen kann, die sich nichts haben zuschulden kommen lassen. Der Verwalter war gegangen. Tayeh und die junge Frau hatten Charlie in die Mitte genommen, die junge Frau saß kerzengerade wie eine Nonne, und Tayeh war schräg nach vorn gerutscht, das eine Bein steif zur einen Seite ausgestreckt und den Stock wie eine Zeltstange in der Mitte: Der Schweiß lief ihm über das pockennarbige Gesicht, während er rauchte und unruhig hin und her rutschte und die Stirn runzelte. Die Geräusche aus dem Gefängnis waren nicht verstummt, sondern zu einem einzigen Ton aus Musik und menschlichen Lauten verschmolzen. Gelegentlich hörte Charlie zu ihrer Verwunderung Lachen. Die junge Frau war schön und streng und in ihrem schwarzen Gewand ein wenig Furcht einflößend. Sie hatte kräftige klare Züge, einen dunklen, aufrechten Blick und schien nicht im geringsten daran interessiert, sich zu verstellen. Sie trug ihr Haar kurz geschnitten. Die Tür stand auf. Die üblichen beiden Jungen bewachten sie.
    »Sie wissen, wer sie ist?« fragte Tayeh und drückte bereits seine erste Zigarette aus. »Kommt Ihnen an dem Gesicht etwas bekannt vor? Schauen Sie genau hin!«
    Das brauchte Charlie nicht. »Fatmeh«, sagte sie.
    »Sie ist nach Sidon zurückgekehrt, um bei ihrem Volk zu sein. Sie spricht kein Englisch, aber sie weiß, wer Sie sind. Sie hat Ihre Briefe an Michel gelesen, und auch die von Michel an Sie. Übersetzt. Natürlich interessiert sie sich für Sie.«
    Tayeh rutschte unter Schmerzen auf seinem Stuhl hin und her, fischte eine schweißgetränkte Zigarette aus der Tasche und zündete sie sich an.
    »Sie ist in Trauer, aber das sind wir alle. Wenn Sie mit ihr reden, werden Sie bitte nicht sentimental. Sie hat bereits drei Brüder und eine Schwester verloren. Sie weiß, wie man damit fertig wird.«

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