Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Libelle

Die Libelle

Titel: Die Libelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John le Carré
Vom Netzwerk:
in einer Notlager-Stadt, die für Tausende, nicht für Hunderte errichtet worden war. Ein würdiger, grauhaariger Mann empfing sie, doch er begrüßte nur Tayeh mit überströmender Herzlichkeit. Er hatte blankgeputzte schwarze Schuhe an und eine Khakiuniform mit rasiermesserscharfen Bügelfalten. Offensichtlich hatte er Tayeh zu Ehren seine beste Kleidung angelegt.
    »Er ist hier unser Lagervorsteher«, sagte Tayeh einfach, als er ihn vorstellte. »Er weiß, dass Sie Engländerin sind, sonst nichts. Er wird keine Fragen stellen.«
    Sie folgten ihm in einen kargen Raum, an dessen Wänden in Vitrinen Sportpokale standen. Auf einem Kaffeetisch in der Mitte lag ein Tablett, auf dem sich Schachteln von Zigaretten aller möglichen Marken türmten. Eine sehr große junge Frau brachte süßen Tee und Gebäck, doch niemand sprach Charlie an. Die Frau hatte ein Kopftuch auf, trug den traditionellen weiten Rock und flache Schuhe. Frau? Schwester? Charlie kam nicht dahinter, wer sie sein mochte. Sie hatte Kummerflecken unter den Augen und schien sich in einem Bereich persönlicher Traurigkeit zu bewegen. Nachdem sie den Raum verlassen hatte, richtete der Lagervorsteher den Blick starr und wildfunkelnd auf Charlie und hielt eine düstere Ansprache mit einem deutlichen schottischen Akzent. Ohne jedes Lächeln erklärte er, dass er während der Mandatszeit bei der palästinensischen Polizei gedient habe und noch heute eine britische Pension beziehe. Der Geist seines Volkes, erklärte er, sei durch seine Leiden sehr gestärkt worden. Er wartete mit Statistiken auf. In den vergangenen zwölf Jahren sei das Lager siebenhundertmal bombardiert worden. Er nannte ihr die Zahl der Todesopfer und befasste sich mit dem Anteil der toten Frauen und Kinder. Die wirkungsvollsten Waffen seien die in Amerika hergestellten Streubomben; die Zionisten hätten auch als Kinderspielzeug getarnte Sprengladungen abgeworfen. Er gab einen Befehl, und ein Junge verschwand und kam gleich darauf mit einem völlig verbeulten Spielzeug-Rennwagen wieder. Er nahm das Chassis ab und zeigte Drähte und Sprengstoff darin. Möglich, dachte Charlie. Aber auch nicht möglich. Er berichtete über die Vielfalt politischer Theorien unter den Palästinensern, versicherte ihr aber ernsthaft, dass im Kampf gegen den Zionismus solche Unterschiede verschwänden. »Sie werfen ihre Bomben auf uns alle«, erklärte er.
    Er redete sie mit »Genossin Leila« an - so hatte Tayeh sie vorgestellt -, und als er geendet hatte, hieß er sie willkommen und übergab sie dankbar an die großgewachsene traurige Frau. »Für die Gerechtigkeit«, sagte er, wie man ›gute Nacht‹ sagt.
    »Für die Gerechtigkeit«, erwiderte Charlie.
    Tayeh sah ihr nach, als sie ging.
    Die schmalen Straßen lagen in kerzenerhellter Dunkelheit da. Offene Abzugsrinnen verliefen in der Mitte. Ein Dreiviertelmond zog über die Hügel. Die große junge Frau ging voran, die Jungen folgten mit Maschinenpistolen und Charlies Schultertasche. Sie gingen an einem schlammigen Sportplatz und niedrigen Hütten vorüber, die eine Schule hätten sein können. Charlie erinnerte sich an Michels Fußballspiel und fragte sich zu spät, ob er irgendwelche Silberpokale für die Vitrinen des Lagervorstehers gewonnen hatte. Blassblaue Birnen brannten über den rostigen Türen der Luftschutzbunker. Was man hörte, waren die Nachtgeräusche von Exilanten. Rock und patriotische Musik mischten sich mit dem zeitlosen Gemurmel alter Männer. Irgendwo stritt ein junges Paar. Ihre Stimmen entluden sich in einer Explosion aufgestauter Wut. »Mein Vater entschuldigt sich für die dürftige Unterkunft. Aber es ist eine Regel des Lagers, dass die Häuser nicht für die Dauer gebaut werden, um uns nicht vergessen zu lassen, wo unsere eigentliche Heimat ist. Wenn es einen Luftangriff gibt, warten Sie bitte nicht auf die Sirenen, sondern laufen Sie in dieselbe Richtung wie alle anderen. Und achten Sie bitte darauf, dass Sie nach einem Angriff nichts berühren, was auf der Erde liegt. Federhalter, Flaschen, Radios - nichts.«
    Sie heiße Salma, sagte sie mit ihrem traurigen Lächeln; und ihr Vater sei Lagervorsteher.
    Charlie ließ sich hineinbitten. Die Hütte war winzig und sauber wie ein Zimmer im Krankenhaus. Sie hatte ein Waschbecken, eine Toilette und einen nach hinten hinausgehenden Garten von der Größe eines Taschentuchs. »Was machen Sie hier, Salma?«
    Die Frage schien sie im Moment zu verwirren. Hierzusein war schon eine

Weitere Kostenlose Bücher