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Die Libelle

Die Libelle

Titel: Die Libelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John le Carré
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Sportplatz aus in Bewegung und führte langsam um das Lager herum, durch Straßen, die überfüllt waren und geschmückt mit handgestickten Bannern, die der Stolz einer jeden englischen Frauenvereinigung gewesen wären. Charlie stand auf der Schwelle ihrer Hütte und hielt ein kleines Mädchen in die Höhe, das noch zu klein war, um mitzumarschieren, und der Luftangriff begann ein paar Minuten nachdem ein Dutzend Halbwüchsige das Modell von Jerusalem in Schulterhöhe an ihr vorüber getragen hatten. Erst kam Jerusalem, versinnbildlicht -so erklärte Salma - durch die Omar-Mosche aus Goldpapier und Muscheln. Dann kamen die Kinder der Märtyrer, von denen ein jedes einen Ölzweig in der Hand hielt und eines der T-Shirts trug, die eine ganze Nacht über bedruckt worden waren. Dann, wie die Fortsetzung der Festlichkeiten, ertönte ein lustiger kleiner Zapfenstreich von Kanonenschüssen aus den Bergen. Aber niemand schrie oder wollte fortlaufen. Noch nicht. Salma, die neben ihr stand, hob nicht einmal den Kopf.
    Bis dahin hatte Charlie eigentlich noch nie richtig über Flugzeuge nachgedacht. Sie hatte ein paar bemerkt, die hoch oben flogen, hatte die weißen Kondensstreifen bewundert, als sie träge im Himmelsblau kreisten. Aber nie war es ihr in ihrer Ahnungslosigkeit in den Sinn gekommen, dass die Palästinenser vielleicht keine Flugzeuge haben könnten oder dass die israelische Luftwaffe gegenüber leidenschaftlich vorgebrachten Ansprüchen auf Land, das von ihrer Grenze zu Fuß aus zu erreichen war, vielleicht eine Ausnahme machte. Charlie hatte viel mehr Augen für die uniformtragenden Mädchen gehabt, die auf den traktorgezogenen Festwagen miteinander tanzten und zum rhythmischen Händeklatschen der Zuschauer ihre Maschinenpistolen hin und her schwenkten; und für die jugendlichen Kämpfer, die sich Streifen ihrer roten Kaffiyehs wie Apachen um die Stirn gebunden hatten und mit ihren Maschinenpistolen hinten auf den Lastwagen posierten; und Ohren für das unablässige, von einem Ende des Lagers bis zum anderen ertönende Wehklagen aus so vielen Kehlen -wurden sie denn nie heiser? Außerdem war sie genau in diesem Augenblick von einer Nebenhandlung abgelenkt worden, die sich unmittelbar vor ihr und Salma abspielte: Ein Kind wurde von einem Wachsoldaten gezüchtigt. Der Soldat hatte seinen Gürtel abgenommen, ihn zusammengelegt und schlug das Kind mit dieser Schlaufe ins Gesicht, und eine Sekunde lang, während sie noch überlegte, ob sie dazwischentreten sollte, erlag Charlie inmitten des allgemeinen, aus so viel unterschiedlichen Tönen bestehenden Getöses der Illusion, dass der Gürtel die Explosionen hervorrief.
    Dann kam das Aufheulen einer unter größter Beanspruchung abbiegenden Maschine sowie der Einsatz von noch mehr Bodenfeuer, obwohl das gewiss zu leicht und zu unbedeutend war, um etwas so schnell und so hoch Fliegendes zu beeindrucken. Die erste Bombe war, als sie explodierte, fast eine Enttäuschung; denn wenn man sie hört, ist man nicht tot. Sie sah den grellen Blitz ein paar hundert Meter weiter am Berghang und dann - während der Knall der Detonation und die Druckwelle gleichzeitig über sie dahingingen - eine Zwiebel aus Rauch aufsteigen. Sie wandte sich zu Salma um, schrie ihr etwas zu, hob die Stimme, als ob ein Sturm toste, obwohl es inzwischen erstaunlich ruhig geworden war; aber Salmas Gesicht war erstarrt vor Hass, während sie zum Himmel hinaufstarrte. »Wenn sie uns treffen wollen, treffen sie uns«, sagte sie. »Heute spielen sie nur mit uns. Du musst uns Glück gebracht haben.« Die tiefere Bedeutung, die in diesen Worten lag, war zuviel für Charlie, und sie wies sie sofort weit von sich. Die zweite Bombe fiel, und sie schien weiter entfernt zu sein, doch vielleicht war Charlie auch nicht mehr so zu beeindrucken: mochte sie fallen, wo sie wollte, nur nicht in diesen überfüllten Gassen mit den Kolonnen geduldiger Kinder, die wie kleine Schildwachen, deren Schicksal bereits besiegelt ist, nur darauf warteten, dass der Lavastrom sich den Berg herunterwälzte. Die Kapelle setzte wieder ein, viel lauter als zuvor; der Demonstrationszug ging los, doppelt so strahlend wie zuvor. Die Kapelle spielte einen Marsch, und die Menge klatschte dazu. In Charlies Hände kam wieder Leben, sie setzte das kleine Mädchen ab und begann gleichfalls zu klatschen. Ihre Hände brannten, und die Schultern taten ihr weh, trotzdem klatschte sie unermüdlich weiter. Der Demonstrationszug drängte sich an die

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