Die Libelle
Aufgabe.
»Also, wo haben Sie Ihr Englisch gelernt?« fragte Charlie.
In Amerika, erwiderte Salma; sie habe an der Universität von Minnesota ihr Examen als Biochemikerin gemacht.
Es gibt einen schrecklichen, dennoch wohltuenden Frieden, wenn man lange Zeit unter den wahren Opfern dieser Welt lebt. Im Lager lernte Charlie endlich jenes Mitgefühl kennen, das das Leben ihr bisher vorenthalten hatte. Während sie wartete, reihte sie sich in das Heer jener ein, die ihr Leben lang gewartet hatten. Und da sie ihre Gefangenschaft teilte, träumte sie, sie habe sich aus der eigenen befreit. Dadurch, dass sie sie liebte, hatte sie die Vorstellung, all die vielen Täuschungen, die sie hierher gebracht hatten, von ihnen vergeben zu bekommen. Sie bekam keine Bewacher zugeteilt, und gleich am ersten Morgen, sobald sie aufgewacht war, machte sie sich vorsichtig daran, die Grenzen ihrer Freiheit herauszufinden. Es schien keine Grenzen zu geben. Sie ging rund um die Sportplätze herum und sah kleinen Jungen zu, die sich mit hochgezogenen Schultern verbissen bemühten, die Körperkraft von Erwachsenen zu erringen. Sie fand das Krankenhaus und die Schulen und die winzigen Läden, in denen alles verkauft wurde, von Orangen bis zu Familienflaschen Haarshampoo. Im Krankenhaus sprach eine alte Schwedin zufrieden über Gottes Willen mit ihr.
»Die armen Juden finden keine Ruhe, solange sie uns auf dem Gewissen haben«, setzte sie Charlie verträumt auseinander. »Gott hat ihnen ein so schweres Los auferlegt. Warum lehrt er sie nicht, wie man liebt?«
Mittags brachte Salma ihr eine flache Käsepastete und eine Kanne Tee, und nachdem sie in ihrer Hütte zu Mittag gegessen hatten, stiegen sie durch einen Orangenhain zu einer Hügelkuppe hinauf, die jener sehr ähnlich war, auf der Michel ihr beigebracht hatte, mit der Pistole seines Bruders zu schießen. Braune Bergketten zogen sich im Westen und Süden am Horizont entlang. »Die Berge im Osten - das ist Syrien«, sagte Salma und zeigte übers Tal. »Aber die dort« - sie schwenkte den Arm in Richtung Süden und ließ ihn dann in plötzlich aufwallender Verzweiflung sinken -, »das sind unsere Berge, und von dort werden die Zionisten kommen, um uns zu töten.«
Auf dem Rückweg sah Charlie flüchtig Militär-Lastwagen, die unter Tarnnetzen abgestellt waren, und in einem Zedernhain den matten Glanz von nach Süden gerichteten Geschützrohren. Ihr Vater komme aus Haifa, nicht einmal siebzig Kilometer von hier, sagte Salma. Ihre Mutter sei tot, beim Verlassen des Bunkers von der Maschinengewehrsalve eines israelischen Jagdflugzeugs niedergemäht. Sie habe einen Bruder, der ein erfolgreicher Bankier in Kuwait sei. Nein, antwortete sie lächelnd auf die auf der Hand liegende Frage: Männer fänden sie zu groß und zu intelligent. Am Abend nahm Salma Charlie zu einem Kinderkonzert mit. Hinterher gingen sie in ein Klassenzimmer und klebten mit zwanzig anderen Frauen aufwieglerische Aufkleber für die große Demonstration auf Kinder-T-Shirts, sie benutzten dazu einen Apparat, der aussah wie ein großes Waffeleisen und dauernd durchbrannte. Einige von den Aufklebern trugen in arabischer Schrift Parolen, die den totalen Sieg versprachen; auf anderen war das Bild von Yasir Arafat zu sehen, den die Frauen Abu Ammar nannten. Charlie blieb fast die ganze Nacht mit ihnen auf und schaffte am meisten. Zweitausend Hemden in der richtigen Größe und genau zur richtigen Zeit, dank Genossin Leila.
Bald war ihre Hütte von früh bis spät voller Kinder; einige kamen, um englisch mit ihr zu reden, einige, um ihr ihre Tänze und Lieder beizubringen; und einige auch, um an ihrer Hand die Straße auf und ab zu gehen, denn es erhöhte das Ansehen, mit ihr zusammen zu sein. Und die Mütter dieser Kinder brachten ihr so viel Zuckergebäck und Käsepasteten, dass sie hier für alle Ewigkeit hätte bleiben können, und das wollte sie auch.
Wer ist sie nur? fragte sich Charlie und wandte ihre Phantasie einer weiteren nicht zu Ende geschriebenen Kurzgeschichte zu, während sie beobachtete, wie Salma sich traurig und isoliert unter ihren Leuten bewegte. Erst nach und nach stellte sich eine Erklärung ein. Salma war draußen in der Welt gewesen. Sie wusste, wie Europäer und Amerikaner über Palästina redeten. Und sie hatte deutlicher als ihr Vater erkannt, wie weit die Berge ihrer Heimat entfernt waren.
Die große Demonstration fand drei Tage später statt. Der Zug setzte sich in der Hitze des Vormittags vom
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