Die Libelle
Seite; ein Jeep mit blitzendem Blaulicht raste vorüber; ihm folgten Ambulanzen und ein Feuerwehrauto. Wie Pulverdampf vom Schlachtfeld flatterte ein Leichentuch aus gelbem Staub hinter ihnen her. Eine Brise trieb es auseinander, die Kapelle spielte weiter, und jetzt war die Gruppe der Fischer an der Reihe. Sie waren durch einen langsamen Kastenwagen vertreten, der über und über mit Arafat-Bildern bedeckt war und einen riesigen, in Weiß, Rot und Schwarz gemalten Papierfisch auf dem Dach trug. Dann folgte - von einer Flötenkapelle angeführt - noch ein Strom von Kindern mit Holzgewehren, die den Text zum Marschlied sangen. Der Gesang schwoll an, alle hatten eingestimmt, und auch Charlie sang aus vollem Herzen mit, ob sie nun den Text kannte oder nicht. Die Flugzeuge verschwanden. Palästina hatte wieder einen Sieg errungen.
»Morgen wirst du woandershin gebracht«, sagte Salma an diesem Abend, als sie am Hang entlanggingen. »Ich gehe nicht«, sagte Charlie.
Zwei Stunden später, kurz vor Einbruch der Dunkelheit - sie war gerade in ihrer Hütte zurück -, waren die Flugzeuge wieder da. Die Sirene ging zu spät los, und Charlie hatte die Bunker noch nicht erreicht, als die erste Welle über sie herfiel - zwei Maschinen, wie bei einer Luftfahrtschau, die mit ihrem Motorenlärm die Menge taub machte - ob die Piloten die Maschinen wohl jemals abfingen und hochrissen? Sie taten es, und die Druckwelle, die durch die Explosion der ersten Bombe ausgelöst wurde, schleuderte sie gegen die Stahltür; der Krach war weniger schlimm als das Erdbeben, das ihn begleitete, und die hysterischen Schwimmbad-Schreie, die den aufsteigenden schwarzen Rauch auf der anderen Seite des Sportplatzes erfüllten. Der dumpfe Aufprall ihres Körpers alarmierte innen jemand, die Tür ging auf, kräftige Frauenhände zogen sie ins Dunkel und zwangen sie auf eine Holzbank. Zuerst war sie vollkommen taub, doch dann hörte sie nach und nach das Wimmern verängstigter Kinder und die ruhigeren, dennoch leidenschaftlichen Stimmen ihrer Mütter. Jemand steckte eine Ölfunzel an und hängte sie an einen Haken in der Mitte der Decke, und eine ganze Zeit lang kam es Charlie mit ihrem Schwindelgefühl vor, als lebte sie in einem falsch herum aufgehängten Stich von Hogarth. Dann bemerkte sie, dass Salma neben ihr saß, und ihr fiel wieder ein, dass sie seit Beginn des Fliegeralarms mit ihr zusammengewesen war. Ein weiteres Paar von Flugzeugen folgte - oder waren es die beiden ersten, die eine zweite Runde drehten -, die Ölfunzel schwankte hin und her, und Charlies Sehvermögen stellte sich wieder auf eine normale Sehweise ein, als in sorgfältig anschwellendem Crescendo eine Bombenkette näher kam. Die beiden ersten spürte sie wie körperliche Schläge - nein, nicht noch einmal, nicht noch einmal, oh, bitte! Die dritte war die lauteste und brachte sie regelrecht um; die vierte und fünfte verrieten ihr, dass sie noch lebte.
»Amerika!« schrie plötzlich eine Frau voller Hysterie und Schmerz Charlie an. »Amerika! Amerika! Amerika!« Sie versuchte, die anderen Frauen mitzureißen, Charlie ebenfalls anzugreifen, doch Salma gebot ihr sanft, still zu sein.
Charlie wartete eine Stunde; wahrscheinlich waren es nur zwei Minuten. Und als danach immer noch nichts passierte, sah sie Salma an und sagte: »Komm, lass uns gehen«, denn sie war überzeugt, dass es im Bunker schlimmer war als irgendwo sonst. Salma schüttelte den Kopf.
»Sie warten nur darauf, dass wir rauskommen«, erklärte sie ihr ruhig und dachte dabei vielleicht an ihre Mutter. »Wir können nicht raus, bevor es dunkel ist.«
Es wurde dunkel, und Charlie kehrte allein in ihre Hütte zurück. Sie zündete eine Kerze an, denn die Stromversorgung war ausgefallen, und das letzte, das sie überhaupt im ganzen Raum sah, war ein Zweig weißer Heide, der in einem Zahnputzglas über dem Waschbecken stand. Sie betrachtete eingehend das kitschige kleine Bild des Palästinenserkinds; sie trat auf den Hof hinaus, wo immer noch ihre Wäsche auf der Leine hing - hurra, sie ist trocken. Da sie keine Möglichkeit hatte, etwas zu bügeln, zog sie die Schublade ihrer winzigen Kommode auf und ordnete die Wäsche mit der Entschlossenheit des Lagerbewohners ein, keine Unordnung aufkommen zu lassen. Eines meiner Kinder wird sie dorthin gesteckt haben, sagte sie sich fröhlich, als sich die weiße Heide nochmals in ihr Blickfeld drängte. Der Lustige mit den Goldzähnen, den ich Aladin getauft habe. Ein
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