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Die Libelle

Die Libelle

Titel: Die Libelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John le Carré
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Adrenalin. Sie nahm kein Blatt vor den Mund, pries Mesterbeins sexuelle Fähigkeiten. Sie ließ sich auf wilde ideologische Exkurse ein, in denen sie willkürlich El Salvador mit dem westdeutschen Verteidigungsetat in Verbindung brachte und die Wahlen in Spanien mit einem Skandal, zu dem es kürzlich in Südafrika gekommen war. Die Schreiberin regte sich über die zionistischen Bombenangriffe auf und sprach von der israelischen ›Endlösung‹ für die Palästinenser. Der Brief war voller Lebenslust und zeigte, dass die Schreiberin praktisch alles überall falsch sah; und von der vernünftigen Annahme ausgehend, dass Mesterbeins Post von den Behörden gelesen wurde, wies sie tugendhaft darauf hin, dass es nötig sei, sich stets »im Rahmen der Gesetze« zu bewegen. Allerdings hatte der Brief ein Postskript, eine Zeile, wie ein Einfall zum Abschied hingekritzelt, dick unterstrichen und mit Ausrufungszeichen versehen. Ein prahlerisches, provozierendes Wortspiel, nur ihnen beiden verständlich, das jedoch möglicherweise wie andere Abschiedsworte den Zweck des ganzen bisherigen Diskurses enthielt. Und es war in französisch: Attention! on va é pater les ‘ Bourgeois! Beim Anblick dieser Worte erstarrten die Analytiker. Warum bourgeois mit großem B ? Wozu die Unterstreichung? Hatte Helga eine so schlechte Schulbildung, dass sie die deutsche Großschreibung auf französische Substantive übertrug? Diese Vorstellung war lachhaft. Und wozu war der Apostroph so sorgfältig darüber gesetzt, nach links verschoben? Während die Entschlüsseler und Analytiker Blut schwitzten, um den Code zu brechen, Computer ruckten und knackten und unmögliche Umstellungen ausspuckten, war es niemand anderer als die unkomplizierte Rachel mit ihrer nordenglischen Geradlinigkeit, die auf die auf der Hand liegende Lösung zusegelte. Rachel löste in ihrer Freizeit gern Kreuzworträtsel und träumte davon, einmal ein Auto zu gewinnen. »Onkel Frei« sei die eine Hälfte, erklärte sie schlicht, und »Bourgeois« die andere. Die freibourgeois seien die Freiburger, die durch eine »Operation« geschockt werden sollten, die am 24. um sechs Uhr abends stattfinden solle. Zimmer 251? »Tja, da muss man sich erkundigen, oder?« erklärte sie den betretenen Experten. Ja, pflichteten diese bei. Das müsse man wohl. Die Computer wurden ausgeschaltet; dennoch hielt sich ein, zwei Tage hindurch eine gewisse Skepsis. Die Mutmaßung sei absurd. Zu leicht. Offen gestanden kindisch. Aber, wie sie schon erfahren hatten, scheuten Helga und ihre Leute sozusagen aus Prinzip jede systematische Form der Kommunikation. Genossen sollten gleichsam von einem revolutionärem Herzen zum anderen sprechen, und das in gewundenen Anspielungen, die über das Begriffsvermögen von Bullen hinausgingen. Überprüfen, sagten sie.
    Es gab mindestens ein halbes Dutzend Freiburgs, doch zunächst dachten sie an die kleine Stadt Freiburg in Mesterbeins heimatlicher Schweiz. Dort wurde Deutsch wie Französisch gesprochen, und die Bourgeoisie dort ist - sogar unter den Schweizern selbst - berühmt für ihre Unbeweglichkeit. Kurtz schickte unverzüglich zwei sehr vorsichtig vorgehende Kundschafter mit dem Auftrag hin, jedes nur denkbare Ziel eines anti-jüdischen Anschlags herauszubekommen und besonders ein Auge auf Firmen zu werfen, die Verträge mit dem israelischen Verteidigungsministerium hatten; nach bestem Vermögen, soweit das ohne Hilfe von offizieller Seite ging, sämtliche Zimmer mit der Nummer 251 zu überprüfen - sowohl in Krankenhäusern und Hotels als auch in Bürohäusern; außerdem die Namen sämtlicher Patienten, die am Vierundzwanzigsten dieses Monats für eine Blinddarmoperation vorgesehen waren; oder für Operationen welcher Art auch immer, die an diesem Tag um 18 Uhr stattfinden sollten.
    Von der Jewish Agency in Jerusalem erhielt Kurtz eine Liste aller prominenten jüdischen Bürger dieser Stadt samt Angaben über ihre Gemeinde- und Verbandszugehörigkeit. Gab es ein jüdisches Krankenhaus in Freiburg? Falls nicht, gab es dann ein Krankenhaus, das sich um die Bedürfnisse orthodoxer Juden kümmerte? Und so weiter.
    Kurtz argumentierte gegen seine eigenen Überzeugungen, und das taten sie eigentlich alle. Zielen dieser Art fehlte ganz und gar die dramatische Wirkung, die ihre Vorläufer so besonders ausgezeichnet hatte; dabei würde niemand é pater werden; niemand konnte einen Sinn darin erkennen.
    Bis eines Nachmittags, mitten in all dieser Geschäftigkeit -fast

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