Die Libelle
als ob ihre an einer Stelle eingesetzte Energie die Wahrheit an einer anderen Stelle ans Licht gezwungen hätte - Rossino, der mordlüsterne Italiener, von Wien nach Basel flog und sich dort ein Leihmotorrad nahm. Nachdem er die Grenze nach Deutschland überschritten hatte, Fuhr er vierzig Minuten zu der alten Münsterstadt Freiburg im Breisgau, einst Hauptstadt des kurzlebigen Landes Baden. Nach einem ausgiebigen Mittagessen dort sprach er im Rektorat der Universität vor und informierte sich höflich über eine Reihe von Vorträgen zu geisteswissenschaftlichen Themen, die in beschränktem Rahmen auch einem allgemeinen Publikum offen standen. Und weniger offenkundig auf dem Lageplan der Universität, wo Hörsaal 251 lag.
Endlich ein Lichtblick nach so viel Nebel! Rachel hatte recht gehabt; Kurtz hatte recht gehabt; Gott war gerecht und Misha Gavron auch. Die Kräfte des Marktes hatten zu einer natürlichen Lösung geführt.
Nur Gadi Becker nahm nicht an der allgemein gehobenen Stimmung teil.
Wo war er?
Es gab Zeiten, da die anderen das besser zu wissen schienen als er selbst. Eines Tages ging er in dem Haus in der Disraeli Street auf und ab und richtete seinen unsteten Blick immer wieder auf die Dechiffriermaschinen, die - für seinen Geschmack viel zu selten - berichteten, wo seine Agentin -Charlie - gesichtet worden war. Am selben Abend - oder genauer gesagt in den frühen Morgenstunden des nächsten Tages - drückte er auf die Klingel von Kurtz’ Haustür, weckte Elli und die Hunde damit auf und verlangte die Zusicherung, dass keine Schläge gegen Tayeh oder sonst wen geführt würden, solange Charlie nicht verlegt worden sei. Er habe da so Gerüchte gehört, sagte er. »Misha Gavron ist nicht gerade für seine Geduld bekannt«, sagte er trocken.
Kam jemand von draußen zurück - zum Beispiel der junge Mann, der unter dem Namen Dimitri bekannt war, oder sein Gefährte Raoul, der per Schlauchboot rausgeschleust wurde -, bestand Becker darauf, bei der Einsatzbesprechung hinterher dabei zu sein und den Betreffenden mit Fragen nach ihrer Verfassung zu überschütten.
Nachdem er das ein paar Tage mitgemacht hatte, konnte Kurtz seinen Anblick nicht mehr ertragen - »lässt mich nicht los, wie mein eigenes schlechtes Gewissen« - und drohte offen, ihm das Haus zu verbieten, bis er sich einer weiseren Einsicht beugte. »Ein Agentenführer ohne seinen Agenten ist wie ein Dirigent ohne Orchester«, erklärte er Elli gegenüber tiefsinnig und hatte dabei Mühe, seinen eigenen Zorn zu schlucken. »Es ist richtiger, ihn aufzumuntern und ihm zu helfen, die Zeit rumzukriegen.«
Heimlich und nur mit Ellis geheimem Einverständnis rief Kurtz Frankie an, erzählte ihr, ihr ehemaliger Mann sei in der Stadt, und gab ihr seine Telefonnummer; denn Kurtz ging mit Churchillscher Großmut davon aus, dass jeder eine so glückliche Ehe führen solle wie er selber.
Frankie rief denn auch an, Becker lauschte eine Weile ihrer Stimme - falls er es überhaupt war, der ans Telefon gegangen war - und legte den Hörer behutsam auf die Gabel, ohne zu antworten, was sie wütend machte.
Gleichwohl hatte Kurtz’ List eine gewisse Wirkung, denn am nächsten Tag machte sich Becker zu einer Fahrt auf, die später als eine Art Reise auf der Suche nach sich selbst angesehen wurde, bei der er die Grundvoraussetzungen seines Lebens betrachtete. Er nahm sich einen Leihwagen und fuhr zuerst nach Tel Aviv. Dort wickelte er zunächst eine pessimistisch stimmende Angelegenheit mit seiner Bank ab und stattete dann dem alten Friedhof einen Besuch ab, auf dem sein Vater begraben lag. Er legte Blumen aufs Grab, machte sorgfältig mit einer geliehenen Schaufel ringsum sauber und sagte laut Kaddisch , obwohl weder er noch sein Vater jemals viel Zeit für die Religion gehabt hatten. Von Tel Aviv aus fuhr er dann in südöstlicher Richtung nach Hebron oder - wie Michel es genannt hätte - El Khalil. Dort ging er zur Abraham-Moschee, die seit dem Sechsundsiebzigerkrieg voller Unbehagen auch als Synagoge dient. Er unterhielt sich mit den wieder eingezogenen Soldaten, die mit ihren verknitterten Buschhüten und bis zur Taille offen stehenden Hemden lässig vor dem Eingang Wache standen und auf den Festungsmauern patrouillierten.
Becker, erzählten sie einander, nachdem er wieder gegangen war - nur, dass sie seinen hebräischen Namen benutzten - der legendäre Gadi persönlich - der Mann, der die Schlacht um den Golan hinter den syrischen Linien gekämpft hat -
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