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Die Libelle

Die Libelle

Titel: Die Libelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John le Carré
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was, zum Teufel, machte er denn hier in diesem arabischen Höllenloch und sah dazu auch noch so aus, als ob es ihm nicht wohl in seiner Haut sei? Unter ihren bewundernden Blicken und ohne sich offensichtlich im geringsten von der explosiven Stille und den finster-drohenden Blicken der Besetzten beirren zu lassen, schlenderte er über den uralten gedeckten Markt. Und manchmal, obwohl offensichtlich mit etwas ganz anderem beschäftigt, blieb er stehen, sprach einen Ladenbesitzer auf arabisch an, erkundigte sich nach einem besonderen Gewürz oder nach dem Preis für ein Paar Schuhe, während kleine Jungen sich um ihn scharten, ihm zuhörten und es einmal sogar wagten, seine Hand zu berühren. Auf dem Weg zurück zu seinem Wagen nickte er den Soldaten zum Abschied zu und fuhr in die schmalen Straßen hinein, die sich zwischen den fruchtbaren roten, terrassenförmig angelegten Weinbergen hindurchschlängelten, bis er allmählich die auf der Ostseite des Berges gelegenen Dörfer mit den würfelförmigen Häusern und den Fernsehantennen auf dem Dach, die wie kleine Eiffeltürme aussahen, erreichte. Die höher gelegenen Hänge waren schneebedeckt; dunkle Wolkenbänke verliehen der Erde ein erbarmungsloses und unversöhnliches Glühen. Auf der anderen Seite des Tals stand - wie der Abgesandte eines eroberungssüchtigen Planeten - eine riesige neue israelische Siedlung.
    Und in einem der Dörfer stieg Becker aus und schnappte ein wenig Luft. Hier hatte Michels Familie bis ‘67 gelebt, bis sein Vater es ratsam gefunden hatte zu fliehen.
    »Ja, hat er denn seinem eigenen Grab auch einen Besuch abgestattet?« wollte Kurtz missmutig wissen, als ihm all dies berichtet wurde. »Erst das seines Vaters, und dann sein eigenes - oder?« Einen Moment lang herrschte Verwirrung, ehe sie alle in Lachen ausbrachen, als sie sich an die moslemische Überlieferung erinnerten, nach der auch Joseph, der Sohn Isaaks, in Hebron begraben sein soll, was - wie jeder Jude weiß - nicht stimmt. Von Hebron aus, so scheint es, fuhr Becker dann in nördlicher Richtung nach Galiläa hinein, bis nach Bei She’an, einer arabischen Stadt, die die Juden neu besiedelt haben, nachdem sie sie nach dem Krieg ‘48 verlassen vorgefunden hatten. Hier hielt er sich lange genug auf, um das römische Amphitheater zu bewundern, und fuhr
    dann gemächlich weiter nach Tiberias, das sich rasch zu einem modernen Urlaubsort im Norden entwickelt, mit riesigen neuen Hotels im amerikanischen Stil am Strand, einem Lido, vielen Kränen und einem ausgezeichneten China-Restaurant. Sein Interesse schien jedoch nur gering zu sein, denn er hielt nicht an, sondern fuhr nur langsam durch die Straßen und spähte aus dem Fenster zu den Wolkenkratzern hinüber, als zählte er sie. Er tauchte dann als nächstes oben im Norden, in Metulla, wieder auf, unmittelbar an der libanesischen Grenze. Ein gepflügter Streifen mit einigen Stacheldrahtverhauen hintereinander bildete die Grenze, die in besseren Tagen ›Guter Zaun‹ genannt worden war. Auf der einen Seite standen israelische Bürger auf einer Beobachtungsplattform und spähten mit bestürztem Gesicht durch den Stacheldraht hinüber in wildzerklüftetes Land. Auf der anderen Seite fuhr die Libanesische Christliche Miliz mit allen möglichen Transporten hin und her, während sie von den Israelis Nachschub für die endlose Blutfehde gegen die palästinensischen Usurpatoren entgegennahm. Damals war Metulla auch der natürliche Endpunkt der nach Beirut hinaufführenden Kurierwege, und Gavrons Amt unterhielt dort ein diskretes Büro, um seinen Agenten beim Transit behilflich zu sein. Der große Becker meldete sich am frühen Abend, blätterte das Hauptbuch des Büros durch, stellte aufs Geratewohl ein paar Fragen über den Standort der UNO-Truppen und ging wieder. Und zwar mit bekümmertem Gesicht, wie der Leiter des Büros sagte. Vielleicht krank. Krank in den Augen, krankes Aussehen. »Was, zum Teufel, hat er gesucht?« wollte Kurtz von dem Leiter wissen, als er es hörte. Doch der Leiter der Dienststelle war ein nüchterner, durch die ständige Geheimniskrämerei stumpf gewordener Mann, der keine weiterführenden Theorien zu bieten hatte. Bekümmert, wiederholte er. So wie Agenten manchmal aussehen, wenn sie lange gehetzt worden sind.
    Und Becker fuhr noch immer weiter, bis er eine gewundene, von Panzerketten aufgerissene Bergstraße erreichte und darauf bis hinauf zu jenem Kibbuz weiterfuhr, dem - falls überhaupt irgendeinem Ort auf

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