Die Libelle
in ein Damenbekleidungsgeschäft, wo Helga Charlie ein Paar pelzgefütterte Stiefel sowie Seidenhandschuhe wegen der Fingerabdrücke kaufte. Von dort zum Münster, wo Helga Charlie anmaßend eine Lektion in Geschichte erteilte, und dann unter viel Gekicher und Andeutungen weiter auf einen kleinen Platz, wo sie sie unbedingt mit einem gewissen Berthold Schwarz bekannt machen wollte - »sexiger als Berthold geht’s nicht, Charlie - du verliebst dich bestimmt unsterblich in ihn.« Berthold Schwarz entpuppte sich als ein Standbild.
»Ist er nicht phantastisch, Charlie? Möchtest du nicht auch, dass wir wenigstens einmal den Rock hochheben könnten? Weißt du, was er ist, unser Berthold? Er war Franziskaner, ein berühmter Alchimist, der Erfinder des Schießpulvers. Er liebte Gott so sehr, dass er all seinen Geschöpfen beibrachte, sich gegenseitig in die Luft zu jagen. Daher haben die guten Bürger ihm ein Denkmal gesetzt. Natürlich.«
Sie packte Charlies Arm und zog sie aufgeregt an sich. »Weißt du, was wir nach heute abend machen?« flüsterte sie ihr zu. »Wir kommen noch einmal hierher zurück, bringen Berthold ein paar Blumen und legen sie zu seinen Füßen nieder. Ja? Ja, Charlie?«
Der Turm des Münsters ging Charlie allmählich auf die Nerven; ein unruhiges, gezacktes Wahrzeichen, immer schwarz, das jedes Mal vor ihr auftauchte, wenn sie um eine Ecke bog oder eine neue Straße betrat.
Zum Mittagessen gingen sie in ein elegantes Restaurant, wo Helga Charlie badischen Wein spendierte, der, wie sie sagte, auf dem vulkanischen Boden des Kaiserstuhls gewachsen sei -ein Vulkan, Charlie, stell dir vor! -, und von jetzt an war alles, was sie aßen oder tranken oder sahen, Anlass für ermüdende und witzige Erläuterungen. Als sie bei der Schwarzwälder Kirschtorte waren - »Heute sind wir ganz bürgerlich« -, wurde Helga wieder ans Telefon gerufen und erklärte bei ihrer Rückkehr, sie müssten jetzt zur Universität, sonst würden sie nie alles schaffen. Sie stiegen daher in eine Fußgängerunterführung mit florierenden kleinen Geschäften hinab und kamen vor einem gewichtigen Gebäude aus erdbeerfarbenem Sandstein, Säulen und einer gewölbten Fassade mit goldener Inschrift darüber, die Helga selbstverständlich gleich übersetzen musste, wieder an die Oberfläche.
»Schau, eine hübsche Botschaft für dich, Charlie. Hör zu: ›Die Wahrheit wird euch frei machen.‹ Sie zitieren Karl Marx für dich, ist das nicht herrlich und aufmerksam?«
»Ich dachte, es stammte von Noël Coward«, sagte Charlie und sah, wie Zorn über Helgas übererregtes Gesicht huschte.
Ein Steinweg führte um das Gebäude herum. Ein älterer Polizist patrouillierte davor und nahm die beiden jungen Frauen ohne besondere Neugier in Augenschein: sie sperrten Mund und Nase auf und zeigten sich gegenseitig etwas - Touristen bis in die Fingerspitzen. Vier Stufen führten zum Haupteingang hinauf. Innen sah man durch dunkle Glastüren die Lampen einer großen Halle blinken. Der Seiteneingang wurde von Statuen von Homer und Aristoteles bewacht. Hier hielten sich Helga und Charlie am längsten auf, bewunderten die Skulpturen und die pompöse Architektur, während sie insgeheim Entfernungen und Zugangsmöglichkeiten maßen. Ein gelbes Plakat verkündete Minkels Vortrag heute abend.
»Du hast Angst, Charlie«, flüsterte Helga, wartete gar nicht erst eine Antwort ab, sondern fuhr fort: »Hör zu, nach dem heutigen Morgen wirst du endgültig triumphieren. Du bist vollkommen. Du wirst zeigen, was Wahrheit und was Lüge ist, du wirst ihnen zeigen, was Freiheit ist. Bei großen Lügen brauchen wir eine große Tat, logisch. Eine große Tat, ein großes Publikum, eine große Sache. Komm!« Eine moderne Fußgängerbrücke führte über den zweispurigen Fahrdamm hinweg. Makabre Totempfähle aus Stein wachten an beiden Enden. Von der Brücke aus gingen sie durch die Universitätsbibliothek in ein Studentencafe, das wie eine Betonwiege über dem Fahrdamm hing. Während sie ihren Kaffee tranken, konnten sie durch die Glaswände Professoren und Studenten den Hörsaal betreten und verlassen sehen. Wieder wartete Helga auf einen Anruf. Er kam, und als sie zurückkehrte, fand sie in Charlies Gesichtsausdruck etwas, das sie ärgerte.
»Was ist denn mit dir los?« zischte sie. »Hat dich plötzlich das Mitleid mit Minkels bezaubernden zionistischen Überzeugungen gepackt? So edel, so hehr? Hör zu, er ist schlimmer als Hitler, ein Wolf im Schafspelz. Komm,
Weitere Kostenlose Bücher