Die Libelle
großen Kampf und lassen uns zum Bürgermeister von New York wählen oder zum Obersten Bundesrichter der USA? Was ist denn los mit uns, Tayeh? Warum haben wir keinen Unternehmungsgeist. Es reicht nicht, dass unsere Leute Ärzte, Naturwissenschaftler, Lehrer werden. Warum übernehmen wir nicht auch noch die Leitung von Amerika? Ist das der Grund, warum wir Bomben und Maschinenpistolen gebrauchen müssen?‹ «
Er stand unmittelbar vor ihr und hielt die Aktenmappe in der Hand wie ein guter Pendler auf dem Weg zur Arbeit.
»Weißt du, was wir tun sollten?« Sie wußte es nicht. »Marschieren. Und zwar wir alle. Ehe sie uns für immer vernichten.« Er reichte ihr den Unterarm und zog sie hoch. »Aus den Vereinigten Staaten, aus Australien, Paris, Jordanien, Saudi-Arabien, dem Libanon - von überallher in der Welt, wo es Palästinenser gibt. Wir nehmen Schiffe bis an die Grenzen. Flugzeuge. Millionen von uns. Wie eine große Flut, die kein Me nsch mehr zur Umkehr zwingen kann.« Er reichte ihr die Aktenmappe, sammelte dann seine Werkzeuge ein und packte sie in den Pappkarton. »Und dann marschieren wir alle zusammen in unserer Heimat ein, verlangen unsere Häuser und Höfe und Dörfer zurück, und wenn wir ihre Städte und Kibbuzim und Siedlungen dem Erdboden gleichmachen müssen, um sie wiederzufinden. Es würde nicht funktionieren. Und weißt du, warum nicht? Sie würden nie kommen.« Er hockte sich auf die Knie und suchte den fadenscheinigen Teppich nach verräterischen Spuren ab. »Unsere Reichen könnten keine Abstriche an ihren sozio-ökonomischen Verhältnissen und an ihrem Lebensstil ertragen «, erklärte er und unterstrich ironisch das Soziologen-Kauderwelsch. »Unsere Kaufleute würden ihre Banken, Läden und Büros nicht verlassen. Unsere Ärzte würden ihre eleganten Kliniken nicht aufgeben und die Rechtsanwälte ihre korrupten Praxen genausowenig wie unsere Akademiker ihre behaglichen Universitäten.« Er stand vor ihr, und sein Lächeln war ein Triumph über all seine Schmerzen. »Also machen die Reichen das Geld und überlassen den Armen das Kämpfen. Wann wäre es je anders gewesen?«
Sie stieg vor ihm die Treppe hinunter. Abgang Nutte, das Köfferchen mit Tricks und Hilfsmitteln in der Hand. Der Coca-Cola-Wagen stand noch im Vorhof, doch er ging an ihm vorüber, als hätte er ihn noch nie im Leben gesehen, und kletterte in den Ford eines Bauern, einen Diesel, der bis unters Dach mit Strohballen beladen war. Sie setzte sich auf den Beifahrersitz. Wieder Berge. Fichten, die auf einer Seite mit frischem nassen Schnee beladen waren, Anweisungen à la Joseph: Verstehst du? Ja, Khalil, ich verstehe. Dann wiederhol mir das! Sie tat es. Es ist für den Frieden, vergiss das nicht. Tu’ ich, Khalil, tu’ ich: für den Frieden, für Michel, für Palästina; für Joseph und für Khalil; für Marty, für die Revolution und für Israel; und für das Theater des Wirklichen. Er hielt neben einer Scheune und schaltete die Scheinwerfer aus. Er blickte auf die Uhr. Weiter unten an der Straße leuchtete zweimal eine Taschenlampe auf. Er langte an ihr vorbei und stieß die Tür auf.
»Er heißt Franz. Sag ihm, du bist Margaret. Viel Glück!«
Der Abend war feucht und still. Die Straßenlaternen der Altstadt hingen wie eingesperrte weiße Monde in ihren Eisenfassungen. Sie hatte sich von Franz an der Ecke absetzen lassen, denn sie wollte vor ihrem Auftritt die paar Schritte über die Brücke zu Fuß zurücklegen. Sie wollte das pausbäckig-gerötete Aussehen von jemand haben, der von draußen hereinkommt, sie wollte die Frische der Kälte auf dem Gesicht und den Hass im Hinterkopf. Sie befand sich in einer Gasse zwischen niedrigen Bauzäunen, die sich um sie schlossen wie ein armseliger Tunnel. Sie kam an einer Kunstgalerie vorüber, die voll war von Selbstporträts eines blonden, nicht sehr sympathischen jungen Mannes mit Brille, dann an einer zweiten Kunstgalerie daneben, in denen idealisierte Landschaften gezeigt wurden, die der junge Mann nie betreten würde. Wandschmierereien schrieen sie an, doch sie konnte kein Wort verstehen, bis sie plötzlich las: »Fuck America!« Danke für die Übersetzung, dachte sie. Dann war sie wieder im Freien, stieg die mit Sand bestreuten Betonstufen empor, doch sie waren vom Schnee immer noch sehr glatt. Sie kam oben an und sah die Glastüren der Universitätsbibliothek zu ihrer Linken. Im Studentencafe brannte immer noch Licht. Rachel und ein Junge saßen gespannt am Fenster. Sie
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