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Die Libelle

Die Libelle

Titel: Die Libelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John le Carré
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passierte den ersten marmornen Totempfahl, sie ging über die Fußgängerbrücke hoch über dem Fahrdamm, um die andere Straßenseite zu erreichen. Schon ragte das Vorlesungsgebäude vor ihr auf; Scheinwerfer verwandelten den erdbeerfarbenen Sandstein in flammendes Karmesinrot. Autos fuhren vor; die ersten Zuhörer trafen ein, stiegen die vier Stufen zum Vordereingang empor, blieben stehen, um Hände zu schütteln und sich gegenseitig zu versichern, wie unvergleichlich prominent man doch sei. Ein paar Sicherheitsbeamte untersuchten mechanisch Damenhandtaschen. Sie ging weiter. Die Wahrheit wird euch frei machen. Sie passierte den zweiten Totempfahl und ging auf die nach unten führende Treppe zu. Die Aktenmappe baumelte an ihrer rechten Hand, und sie spürte, wie sie ihre Schenkel streifte. Eine heulende Polizeisirene bewirkte, dass sich ihre Schultermuskeln vor Schreck verkrampften; trotzdem ging sie weiter. Zwei Polizeimotorräder mit blitzendem Blaulicht fuhren vor einem schimmernden schwarzen Mercedes mit Stander her. Für gewöhnlich wandte sie, wenn große Wagen vorüberfuhren, das Gesicht ab, um den darin Sitzenden nicht die Genugtuung zu geben, dass man sie ansehe, doch heute abend war das etwas anderes. Heute abend konnte sie den Kopf hoch tragen; sie hatte die Antwort ja in der Hand. Sie starrte sie daher an und wurde belohnt durch den Anblick eines geröteten, übergewichtigen Mannes in schwarzem Anzug und silberner Krawatte; und einer missmutig dreinblickenden Gattin mit dreifachem Kinn und Nerzplaid. Für große Lügen brauchen wir selbstverständlich ein großes Publikum , fiel ihr ein. Eine Kamera blitzte, das hochgestellte Paar stieg - von mindestens drei Vorübergehenden bewundert - zu den Glastüren hinauf. Bald, ihr Schweine , dachte sie, bald !
    Unten an der Treppe wendest du dich nach rechts. Das tat sie und ging weiter, bis sie die Ecke erreichte. Paß auf, dass du nicht in den Fluss fällst, hatte Helga gesagt und war sich dabei besonders witzig vorgekommen. Khalils Bomben sind nicht wasserdicht, Charlie, und du auch nicht. Sie bog nach links ab und ging seitlich an dem Gebäude entlang, über einen Bürgersteig mit Kopfsteinpflaster, auf dem kein Schnee liegen geblieben war. Der Fußweg verbreiterte sich, wurde zu einem Hof, und in der Mitte dieses Hofes, neben einer Gruppe von Blumenkübeln aus Beton, stand ein Mannschaftswagen der Polizei. Davor standen zwei uniformierte Beamte und taten voreinander groß, hoben die Reitstiefel und lachten, um jeden finster anzublicken, der es wagte, sie dabei zu beobachten. Sie war keine fünfzehn Meter von der Seitentür entfernt und begann die Ruhe zu spüren, auf die sie wartete - jenes Gefühl fast von Erleichterung, das sie überkam, sobald sie die Bühne betrat und ihre anderen Identitäten in der Garderobe zurückließ. Sie war Imogen aus Südafrika, ein Mädchen, das an Mut mitbrachte, was ihr an Anmut fehlte, und sich beeilte, einem großen Freiheitshelden beizustehen. Sie war peinlich berührt -Scheiße, es war ihr zum Sterben peinlich -, aber entweder sie tat jetzt das Richtige, oder sie verpatzte es. Sie hatte den Seiteneingang erreicht. Er war verschlossen. Sie drückte die Klinke herunter, doch nichts bewegte sich. Verdutztes Zittern. Sie legte die Handfläche gegen die Füllung und drückte, doch die Tür gab nicht nach. Sie trat zurück und starrte die Tür an, dann sah sie sich hilfesuchend um. Inzwischen hatten die beiden Polizisten aufgehört, miteinander zu schön zu tun und fassten sie argwöhnisch ins Auge, doch keiner von ihnen machte einen Schritt.
    Vorhang auf! Los!
    »Bitte, entschuldigen Sie«, rief sie ihnen zu. »Sprechen Sie Englisch?«
    Sie bewegten sich immer noch nicht. Wenn jemand ein Stück gehen musste, dann sollte sie’s doch tun. Sie war schließlich nur ein Bürger, und dazu noch eine Frau.
    » I said do you speak English ? Englisch - sprechen Sie? Irgend jemand muss dies dem Professor geben. Sofort. Würden Sie bitte mal herkommen?«
    Beide machten finstere Gesichter, doch nur einer kam zu ihr herüber. Langsam, auf seine Würde bedacht.
    » Toilette nicht hier «, raunzte er sie an und wies mit einer Kopfbewegung die Straße hinauf, die sie gerade heruntergekommen war. »Ich will ja gar nicht zur Toilette. Ich möchte, dass Sie jemand finden, der diese Aktentasche Professor Minkel übergibt. Minkel «, wiederholte sie und hielt die Aktentasche in die Höhe.
    Der Polizist war jung und machte sich nichts aus Jugend.

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