Die Libelle
Hass so bedrückend auf zartere Seelen wie Willy und Pauly, dass diese sich verdrückten, bis der Sturm vorüber war. Und bei dieser Gelegenheit hatte auch Charlie das getan: sie hatte sich in eine Ecke des Dachbodens verkrochen, um dort ihre Wunden zu lecken. Als sie jedoch Punkt sechs wach geworden war, hatte sie beschlossen, erst einmal allein baden zu gehen und hinterher in den Ort zu laufen und sich dort ein Frühstück und eine englischsprachige Zeitung zu gönnen. Und gerade als sie sich ihre Herald Tribune kaufte, kam es zu der Erscheinung: der klare Fall eines übersinnlichen Phänomens. Er war der Mann im roten Blazer. Er stand in diesem Augenblick unmittelbar hinter ihr und kaufte sich, ohne sie auch nur im geringsten zu beachten, ein Taschenbuch. Diesmal freilich nicht im roten Blazer, sondern in T-Shirt, Shorts und Sandalen. Und doch war es ohne jeden Zweifel derselbe Mann, dasselbe kurz geschnittene, an den Spitzen angegraute Haar, das in der Stirnmitte zu einer Teufelsspitze auslief; derselbe höfliche Blick aus braunen Augen, voller Achtung vor den Leidenschaften anderer Leute, mit dem er sie einen halben Tag lang wie ein trübes Licht aus der ersten Reihe des Parketts im Barrie Theatre von Nottingham angestarrt hatte: erst bei der Matinee, dann auch noch während der Abendvorstellung - Augen nur für Charlie, von der er sich nicht die kleinste Geste hatte entgehen lassen. Ein Gesicht, das die Zeit weder hart noch weich gemacht hatte, sondern das endgültig schien wie auf einem Stich. Ein Gesicht, das für Charlies Begriffe im Gegensatz zu den vielen Masken eines Schauspielers nur eine starke und beständige Wirklichkeit verriet.
Sie hatte die Heilige Johanna gespielt und war über den Dauphin fast wahnsinnig geworden, der wer weiß wie eingebildet war und bei jeder Szene versuchte, sie einfach an die Wand zu spielen. Deshalb war ihr erst bei der dramatischen Schlussszene bewusst geworden, dass er mitten unter den Schulkindern in der ersten Reihe des halbleeren Zuschauerraums saß. Wäre die Beleuchtung nicht so schwach gewesen, hätte sie ihn wahrscheinlich nicht einmal dann bemerkt, nur war ihre Beleuchtungsanlage in Derby hängen geblieben und musste noch nachgeschickt werden, und so gab es nicht das übliche blendende Licht, das ihr normalerweise den Blick aufs Publikum verwehrte. Zuerst hatte sie ihn für einen Lehrer gehalten, doch als die Schüler hinausgegangen waren, hatte er sich nicht von seinem Platz gerührt, sondern dagesessen und gelesen - den Text oder vielleicht auch die Einführung, wie sie annahm. Und als der Vorhang zur Abendvorstellung in die Höhe gegangen war, hatte er noch auf demselben Platz in der Mitte gesessen, sie wieder mit diesem friedlichen und nichts verratenden Blick verfolgt wie zuvor, und als der letzte Vorhang fiel, hatte sie das geärgert, weil er ihn ihr entzog.
Ein paar Tage später, in York- sie hatte ihn schon vergessen -, hätte sie schwören mögen, ihn wieder gesehen zu haben, doch war sie sich nicht ganz sicher gewesen; dazu war die Bühnenbeleuchtung zu gut gewesen, hatte sie den Lichtschleier nicht durchdringen lassen. Der Fremde war diesmal auch nicht zwischen den Vorstellungen auf seinem Platz sitzen geblieben. Trotzdem hätte sie schwören mögen, dass es dasselbe Gesicht war, erste Reihe Parkett, genau in der Mitte, das da hingerissen zu ihr hinaufstarrte, und auch derselbe rote Blazer. War er ein Kritiker? Ein Produzent? Ein Agent? Ein Filmregisseur? Oder vielleicht von der großen Londoner Firma, die vom Arts Council die Patenschaft für ihre Truppe übernommen hatte? Doch für einen reinen Finanzprofi, der überprüfte, ob die Investition sich für seine Firma auch lohnte, war er zu hager und zu wachsam in seiner Unbeweglichkeit. Und was Kritiker, Agenten und so weiter betraf, so war es schon ein Wunder, wenn sie einen ganzen Akt über blieben - ganz zu schweigen von zwei aufeinander folgenden Vorstellungen. Als sie ihn dann ein drittes Mal kurz vor dem Abflug in den Urlaub, ja, nach der letzten Vorstellung ihrer Tournee, nahe am Bühneneingang des kleinen East End-Theaters stehen sah - oder stehen zu sehen glaubte -, hätte nicht viel gefehlt, und sie wäre auf ihn zugegangen und hätte ihn gefragt, was er hier zu suchen habe - ob er ein angehender Ripper oder Autogrammjäger oder einfach ein normaler Lustmolch sei wie wir anderen auch. Nur sein betont rechtschaffenes Aussehen hatte sie davon abgehalten. Als sie ihn daher jetzt wiedersah - wie
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