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Die Libelle

Die Libelle

Titel: Die Libelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John le Carré
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aber hinreißend aus, während Charlie nach den üblichen Normen eher hausbacken wirkte: moche , mit langer kräftiger Nase und nicht mehr ganz taufrischem Gesicht, das im einen Augenblick kindlich und im nächsten so alt und verhärmt aussehen konnte, dass man sich unwillkürlich fragte, was für böse Erfahrungen sie in ihrem bisherigen Leben gemacht haben mochte und was noch aus ihr werden sollte. Manchmal war sie das Findelkind der Gruppe, manchmal ihre Mutter, diejenige, die das Geld zählte und wusste, wo das Mückenschutzmittel oder Heftpflaster für aufgeschnittene Füße lag. In dieser wie in all ihren anderen Rollen war sie unter ihnen die mit dem weitesten Herzen, überhaupt die fähigste. Gelegentlich war sie aber auch ihr gutes Gewissen, schrie sie an wegen irgendeines echten oder eingebildeten Verbrechens wie Chauvi-Verhalten, Sexismus oder westliche Gleichgültigkeit. Das Recht dazu war ihr durch ihre Herkunft gegeben, denn Charlie war die einzige von ihnen, die aus einem guten Stall kam, wie sie gern sagten: Internat und Tochter eines Börsenmaklers, selbst wenn der arme Mann - wie sie nie müde wurde, ihnen zu erzählen - seine Tage hinter Gittern beendet hatte, weil er Kunden betrogen hatte. Aber die Herkunft bricht immer wieder durch, egal, was geschieht. Und schließlich war sie auch unbestritten ihre Hauptdarstellerin. Wenn es Abend wurde und die Familie sich in ihren Strohhüten und bauschenden Strandkleidern kleine Stücke vorspielte, war es Charlie - sofern sie Lust hatte mitzumachen -, die das am besten machte. Wenn sie beschlossen, sich gegenseitig etwas vorzusingen, war es Charlie, die ein bisschen zu gut für ihre Stimmen Gitarre spielte; Charlie, die die Protestlieder kannte und sie in einem zornigen, männlichen Stil vortrug. Bei anderen Gelegenheiten räkelten sie sich in mürrischem Zusammensein, rauchten Haschisch und tranken Retsina, der halbe Liter für dreißig Drachmen. Alle bis auf Charlie, die dann ein wenig abseits von ihnen lag wie jemand, der schon vor langer Zeit so viel gehascht und getrunken hatte, wie er brauchte. »Wartet nur, bis meine Revolution kommt«, pflegte sie sie dann mit schläfriger Stimme zu warnen. »Ich scheuch’ euch Kindsköpfe allesamt noch vorm Frühstück raus zum Rübenziehen.« Dann taten sie so, als bekämen sie es mit der Angst, und fragten: »Wo soll’s denn losgehen, Chas? Wo rollt der erste Kopf?« -»In Rickmansworth«, antwortete sie dann unweigerlich und hackte damit auf ihrer sturmbewegten Kindheit in dem vornehmen Vorort herum. »Dann fahren wir all ihre Scheiß-Jaguars in ihre Scheiß-Swimmingpools.« Daraufhin stießen sie wieder klagende Angstlaute aus, obwohl sie genau wussten, dass Charlie selbst eine Schwäche für schnelle Autos hatte.
    Aber sie liebten sie. Das war keine Frage. Und Charlie erwiderte ihre Liebe, so sehr sie es auch abstritt.
    Joseph, wie sie ihn nannten, gehörte dagegen überhaupt nicht zu ihrer Familie, nicht einmal - wie Charlie - am Rande. Er besaß eine Selbstgenügsamkeit, die für schwächere Naturen geradezu so etwas wie Mut darstellte. Er hatte keine Freunde, beklagte sich aber nicht deswegen, war der Fremde, der niemand brauchte, nicht einmal sie. Bloß ein Handtuch, ein Buch, eine Wasserflasche und sein eigener kleiner Schützengraben im Sand. Charlie allein wusste, dass er eine Erscheinung war.
    Sie bekam ihn auf der Insel zum ersten Mal an dem Vormittag nach ihrer Riesenauseinandersetzung mit Alastair zu Gesicht, die sie nach Punkten klar verloren hatte. Irgendwo in Charlie gab es eine entscheidende Schwäche, die sie mit tödlicher Sicherheit auf machos hereinfallen ließ, und der augenblickliche macho war ein baumlanger, betrunkener Schotte, der innerhalb der Familie ›Long Al‹ genannte wurde, dauernd Drohungen ausstieß und ungenau den Anarchisten Bakunin zitierte. Wie Charlie war er rothaarig und hellhäutig und hatte harte blaue Augen. Wenn sie gemeinsam schimmernd aus dem Wasser stiegen, waren sie in ihrer Umgebung wie Menschen einer anderen Rasse, und der hitzige Ausdruck auf ihren Gesichtern tat kund, dass sie sich dessen bewusst waren. Wenn sie sich von einem Augenblick auf den anderen Hand in Hand und ohne den anderen ein Wort zu sagen, aufmachten, um sich ins Bauernhaus zurückzuziehen, empfand man die Heftigkeit ihrer Begierde wie einen stechenden Schmerz, den man gespürt, aber nur selten mit einem anderen geteilt hatte. Aber wenn sie sich - wie gestern Abend - stritten, legte sich ihr

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