Die Libelle
es mit ihren eigenen Worten erklärt, mildernde Umstände, möglicherweise einen Sinneswandel - warum lassen wir sie uns dann nicht von Mr. Quilley zeigen? Sofern er dazu bereit ist. Wenn nicht - nun, das wäre etwas anderes«, fügte er mit einer unangenehmen Anspielung hinzu.
»Karman, ich bin ganz sicher, dass Ned nichts dagegen hat«, erklärte Kurtz streng, als ob es darum gar nicht ginge. Und schüttelte den Kopf, als werde er sich nie daran gewöhnen, wie aufdringlich die jungen Leute heutzutage waren.
Der Regen hatte aufgehört. Sie nahmen den kleinen Quilley in die Mitte und passten ihren eigenen flotten Gang seinen unsicheren Schritten an. Er war doch ziemlich angesäuselt, war bekümmert und litt unter dem Gefühl, nicht mehr ganz nüchtern zu sein, das auch Feuchtigkeit und Abgase auf der Straße nicht vertreiben wollten. Was, zum Teufel, wollen sie? fragte er sich immer wieder. Eben noch bieten sie an, Charlie die Sterne vom Himmel zu holen, um gleich darauf Bedenken wegen ihrer albernen politischen Einstellung zu haben. Und jetzt wollten sie auch noch aus Gründen, an die er sich nicht mehr erinnerte, Einsicht in ihre Unterlagen haben, die eigentlich gar keine richtigen Unterlagen waren, sondern ein kunterbuntes Durcheinander zufällig aufgehobener Dinge, für das eine Angestellte zuständig war, die eigentlich längst hätte pensioniert werden müssen. Mrs. Longmore, die Empfangsdame, beobachtete ihre Ankunft, und ihrem missbilligenden Blick entnahm Ned sofort, dass er beim Lunch des Guten zuviel getan hatte. Sollte sie ihm doch den Buckel runterrutschen! Kurtz bestand darauf, dass er vor ihnen die Treppe hinaufging.
Während sie ihm praktisch die Pistole an die Schläfe hielten, rief er von seinem Schreibtisch aus Mrs. Ellis an und bat sie, Charlies Unterlagen ins Wartezimmer zu bringen und sie dort zu lassen. »Sollen wir bei Ihnen klopfen, wenn wir durch sind, Mr. Quilley?« fragte Litvak wie jemand, der im Begriff steht, ein Kind auf die Welt zu bringen.
Als letztes sah er von ihnen, wie sie im Wartezimmer an dem Trommeltisch aus Rosenholz saßen, umgeben von etwa sechs von Mrs. Ellis’ ziemlich abgegriffenen braunen Kartons, die aussahen, als hätte man sie aus der Zeit der deutschen Bombenangriffe herübergerettet. Die beiden Amerikaner wirkten wie zwei Steuerfahnder, die über die gleichen verdächtigen Zahlenreihen gebeugt dahockten und Bleistift und Papier neben sich liegen hatten; Gold, der Breitschultrige, hatte sogar das Jackett ausgezogen und seine verbeulte Uhr neben sich gelegt, als ob er bei seinen tückischen Rechnungen die Zeit stoppte. Danach musste Quilley eingenickt sein. Als er um fünf aus dem Schlaf hochfuhr, war der Warteraum leer. Und als er nach Mrs. Longmore klingelte, erwiderte diese spitz, seine Gäste hätten ihn nicht stören wollen.
Ned erzählte es Marjory nicht sofort. »Ach die «, sagte er, als sie ihn noch am selben Abend danach fragte. »Nur ein Gespann langweiliger Programmgestalter, die auf dem Weg nach München hier Zwischenstation gemacht haben. Jedenfalls nichts, worüber man sich Sorgen zu machen brauchte.« »Juden?«
»Ja - hm, wohl Juden, wie ich annehme. Doch, bestimmt.« Marjory nickte, als hätte sie das die ganze Zeit über gewusst. »Aber ich muss schon sagen, wirklich nette «, sagte Ned ein wenig hoffnungslos.
Marjory betreute in ihrer Freizeit Gefangene in den Gefängnissen, und auf Neds Flunkereien fiel sie schon lange nicht mehr herein. Aber sie wartete ihre Zeit ab. Bill Lochheim war Neds Vertreter in New York, sein einziger amerikanischer Freund. Am nächsten Nachmittag rief Ned ihn an. Zwar hatte Loch nichts von ihnen gehört, rief aber pflichtschuldigst zurück und berichtete, was Ned bereits wusste: die Agentur GK sei neu in der Branche, solle finanziell auf soliden Füßen stehen, doch seien diese unabhängigen Agenten ein ausgesprochner Störfaktor auf dem Markt. Der Ton, in dem Loch sprach, gefiel Quilley nicht. Es klang, als sei er von jemand angespitzt worden - nicht von Quilley, der nie in seinem Leben jemand angespitzt hatte, sondern von jemand anders, einem dritten, bei dem er sich informiert hatte.
Quilley konnte sich sogar des sonderbaren Gefühls nicht erwehren, dass er und Loch auf eine merkwürdige Weise im selben Boot säßen. Mit erstaunlichem Mut rief Quilley daraufhin unter einem Vorwand die New Yorker Nummer von GK an, doch dabei stellte sich heraus, dass er an einen Telefonservice für Firmen geriet, die kein
Weitere Kostenlose Bücher