Die Libelle
nach München, selbst wenn die Produktion, um die es ihm ging, ganz anders geartet war, als er ihm weisgemacht hatte. Er suchte seine beiden sicheren Wohnungen auf, er flößte seinen Leuten neuen Mut ein. Außerdem arrangierte er auch noch ein freundschaftliches Treffen mit dem guten Dr. Alexis: wieder ein ausgedehntes Mittagessen, bei dem fast nichts von Belang besprochen wurde
- doch was brauchen alte Freunde mehr als einander?
Und von München aus setzte Kurtz seine Reise in südlicher Richtung fort. Er flog nach Athen.
Kapitel 5
Die Fähre legte mit zweistündiger Verspätung in Piräus an, und wenn Joseph nicht schon ihr Flugticket eingesteckt hätte -Charlie hätte ihn womöglich doch noch sitzenlassen. Vielleicht aber auch nicht, denn so verrückt sie nach außen auch wirkte, innerlich litt sie unter dem Fluch der Zuverlässigkeit, die bei den Menschen, mit denen sie verkehrte, oft reinste Verschwendung war. Einerseits hatte sie zuviel Zeit zum Nachdenken gehabt, und obwohl sie sich inzwischen zu der Überzeugung durchgerungen hatte, dass es sich bei dem Geisterzuschauer von Nottingham, York und East London entweder um einen anderen Mann gehandelt oder dass sie sich das Ganze überhaupt nur eingebildet hatte, regte sich in ihrem Inneren immer noch eine beunruhigende Stimme, die sich durch nichts zum Schweigen bringen lassen wollte. Andererseits war es bei weitem schwieriger gewesen, der Familie ihre veränderten Pläne klarzumachen, als Joseph es hingestellt hatte. Lucy war sogar in Tränen ausgebrochen und hatte ihr Geld aufnötigen wollen - »Meine letzten fünfhundert Drachmen, Chas, nimm sie, sie gehören dir!« Willy und Pauly waren betrunken am Pier vor schätzungsweise Tausenden von Zuschauern vor ihr niedergekniet- »Chas, Chas, wie kannst du uns das antun?« -, und um all dem zu entkommen, hatte sie sich durch eine grinsende Menge kämpfen und die ganze Straße hinunterrennen müssen, wobei der Riemen ihrer Schultertasche gerissen war; die Gitarre hatte sie unter dem anderen Arm hängen, und alberne Tränen der Reue liefen ihr übers Gesicht. Ihre Rettung war ausgerechnet der strohblonde Hippie aus Mykonos, der auf demselben Schiff mit ihnen herübergekommen sein musste, wenngleich sie ihn auch nicht gesehen hatte. Er kam mit einem Taxi an ihr vorüber, las sie auf und setzte sie fünfzig Meter von ihrem Bestimmungsort wieder ab. Er stamme aus Schweden und heiße Raoul, sagte er. Sein Vater sei geschäftlich in Athen, und jetzt hoffe er, ein bisschen bei ihm lockermachen zu können. Sie war ein wenig überrascht, dass er sich plötzlich so vernünftig zeigte; Jesus erwähnte er auf der Fahrt kein einziges Mal. Das Diogenes-Restaurant hatte eine blaue Markise. Ein aus dicker Pappe ausgeschnittener Koch forderte sie auf, einzutreten.
Tut mir leid, Jose, falsche Zeit, falscher Ort. Tut mir wirklich leid, Jose, war ein wunderschöner Traum, aber der Urlaub istzu Ende, Chas schwirrt ab, und so bin ich bloßgekommen, um mir mein Flugticket zu holen und dann Leine zu ziehen.
Vielleicht versuchte sie es aber auch auf die einfachere Tour und machte ihm weis, ihr sei eine Rolle angeboten worden. Sie kam sich in ihren abgetragenen Jeans und den ausgelatschten Stiefeln wie eine Schlampe vor, als sie sich zwischen den Straßentischen hindurchdrängelte, bis sie die Innentür erreicht hatte. Er ist ja bestimmt sowieso abgehauen, redete sie sich ein - wer wartet heutzutage schon zwei Stunden auf ein Mädchen, mit dem er ins Bett gehen will? - Flugticket bei der Rezeption nebenan. Vielleicht ist mir das eine Lehre, dachte sie - in stockfinsterer Nacht in Athen hinter mitteleuropäischen Strand-Beaus herzulaufen. Um alles noch schwieriger zu machen, hatte Lucy ihr gestern abend noch einige von ihren Scheiß-Pillen aufgedrängt, die sie erst recht high gemacht und dann hinterher ganz tief in ein schwarzes Loch hatten sacken lassen, aus dem herauszukommen sie sich noch immer abmühte. In der Regel nahm Charlie solche Sachen nicht, aber ihr Schwanken zwischen zwei Liebhabern, wie sie es sich selbst gegenüber inzwischen darstellte, hatte sie anfällig gemacht. Sie wollte gerade das Restaurant betreten, als zwei Griechen herausgestürmt kamen und über den abgerissenen Träger ihrer Schultertasche lachten. Sie stellte sich hin, beschimpfte sie wütend und nannte sie Sexistenschweine. Zornbebend schob sie die Tür mit dem Fuß auf und trat ein. Die Luft wurde kühl, das Stimmengewirr von draußen verstummte, sie
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