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Die Libelle

Die Libelle

Titel: Die Libelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John le Carré
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mussten, und dass sie in einer gewissen, schrecklichen Hinsicht sogar recht hatten und er, Ned, entweder ihren Verdacht entkräften musste, oder aber er riskierte, dass das ganze Geschäft in die Brüche ging und damit alle seine Hoffnungen für Charlie zum Teufel waren. Denn da war noch etwas, was Ned mit seiner fatalen Vernünftigkeit auch nicht übersehen durfte - nämlich, dass, selbst wenn ihr Projekt sich als schrecklich entpuppen sollte, was, wie er annahm, wohl der Fall sein würde; selbst wenn Charlie jeden Vers verpatzte, den man ihr zu sprechen gab; selbst wenn sie sternhagelvoll auf die Bühne kam oder dem Regisseur Glasscherben in die Badewanne schmuggelte - etwas, woran sie nicht im Traum dachte, weil sie ihren Beruf viel zu ernst nahm -, ihre Karriere schließlich, ihr Ansehen, ja, selbst ihr Marktwert endlich jenen sehnlichst erhofften Aufstieg nehmen würde, von dem sie ernstlich nicht wieder herunter musste.
    Kurtz hatte die ganze Zeit über unbeirrt weitergeredet. »Was raten Sie uns, Ned«, beschwor er ihn ernst. »Wir brauchen ihre Hilfe. Wir möchten wissen, ob diese ganze Geschichte nicht schon am zweiten Tag platzt - der Schuss hinten rausgeht. Denn ich will Ihnen eins sagen.« Ein kurzer, kräftiger Finger zeigte auf ihn wie ein Pistolenlauf. »Kein Mensch im Staate Minnesota ist bereit, einer rot angehauchten Feindin der Demokratie - falls sie das wirklich ist - eine Viertelmillion Dollar zu zahlen. Und kein Mensch bei GK wird ihnen raten, das zu tun und damit Harakiri zu begehen.«
    Um es gleich zu sagen: Ned fing sich schließlich nicht schlecht. Er entschuldigte sich für nichts. Ohne auch nur den geringsten Rückzieher zu machen, erinnerte er sie nochmals an das, was er über Charlies Kindheit gesagt hatte, und wies darauf hin, dass sie normalerweise unter diesen Umständen ganz der Jugendkriminalität hätte
    verfallen oder - wie ihr Vater - im Gefängnis enden müssen. Was nun ihre politischen Aktivitäten oder Einstellungen oder wie man es sonst nennen wolle, betreffe, so sagte er, in den rund neun Jahren, die er und Marjory sie jetzt kennten, sei Charlie eine leidenschaftliche Gegnerin der Apartheid gewesen - »Nun, und daran kann doch niemand was auszusetzen haben, oder?« (obwohl sie zu denken schienen, man könne das durchaus) -, eine militante Pazifistin, Sufistin, Anti-Kernwaffen-Demonstrantin, Gegnerin von Vivisektion und - bis zu dem Augenblick, da sie selbst wieder angefangen habe zu rauchen - eine Verfechterin des Rauchverbots in Kinos und in der Untergrundbahn. Außerdem hege er nicht den geringsten Zweifel, dass Charlie, ehe der Sensenmann sie hole, noch eine ganze Menge ähnlich unterschiedlicher Angelegenheiten finden werde, denen sie ihre romantische, wenn auch kurze Unterstützung zuteil werden lasse.
    »Und das alles haben Sie mit ihr durchgestanden, ohne sie fallenzulassen, Ned?« Kurtz war voller Bewunderung. »Ich muss schon sagen, das finde ich großartig von Ihnen, Ned.«
    »So würde ich das bei allen machen!« erklärte Ned in einer begeisterten Aufwallung. »Was soll’s, sie ist schließlich eine Schauspielerin . Nehmen Sie sie doch nicht so ernst. Schauspieler haben keine Meinungen , mein Lieber, von Schauspielerinnen ganz zu schweigen. Sie haben Stimmungen. Marotten. Setzen sich in Positur. Haben Leidenschaften, die nur einen Tag dauern. Es ist doch weiß Gott mit der Welt nicht alles in Ordnung, verflixt noch mal. Schauspieler fliegen auf dramatische Lösungen. Wenn Sie mich fragen, sobald Sie sie erstmal drüben haben, wird sie wie neugeboren sein!«
    »Nein, politisch bestimmt nicht«, erklärte Litvak leise und niederträchtig.
    Unter dem hilfreichen Einfluss des Rotweins verfolgte Ned seinen kühnen Kurs noch ein paar Augenblicke weiter. Er wurde von einer Art Schwindel erfasst. Er hörte die Worte im Kopf; wiederholte sie und fühlte sich wieder jung und vollkommen losgelöst vom eigenen Handeln. Er sprach von Schauspielern ganz allgemein und davon, dass ›das Schreckgespenst des Unwirklichen‹ sie einfach nie loslasse. Dass sie auf der Bühne sämtliche Qualen des Menschseins verkörperten und durchlitten, wenn sie jedoch nicht auf der Bühne stünden, hohle Gefäße seien, die darauf warteten, gefüllt zu werden. Er redete von ihrer Schüchternheit, ihrer Beschränktheit, ihrer Verwundbarkeit und ihrer Angewohnheit, diese Schwächen hinter hart und abgebrüht vertretenen Anliegen zu verstecken, die sie der Erwachsenenwelt entliehen hätten. Er

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