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Die Libelle

Die Libelle

Titel: Die Libelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John le Carré
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Er rief sie. Sie ging auf das offen stehende Tor zu. Sie spürte, wie die Polizisten sie mit den Augen auszogen, und ihr ging durch den Kopf, dass Joseph sie bis jetzt noch nie so angesehen hatte; er hatte noch nicht den plumpen Beweis geliefert, sie zu begehren. In ihrer Unsicherheit wünschte sie nichts sehnlicher, als dass er das tun würde.
    Das Tor schloss sich hinter ihr. Da waren Stufen, und nach den Stufen kam ein Weg über glatte Felsen. Sie hörte, dass er ihr riet, vorsichtig zu sein. Sie hätte gern den Arm um ihn gelegt, doch er dirigierte sie so, dass sie vor ihm herging, sagte, der Blick dürfe durch ihn nicht versperrt werden. Es geht also um einen Blick, dachte sie. Den zweitbesten Blick auf Erden. Der Felsen musste Marmor sein, denn er glänzte selbst im Dunkeln, und ihre Ledersohlen rutschten gefährlich darauf. Einmal wäre sie ums Haar hingefallen, doch seine Hand fing sie mit einer Schnelligkeit und einer Kraft auf, mit der verglichen Al ihr schwächlich vorkommen musste. Einmal drückte sie seinen Arm an ihre Seite, so dass seine Fingerknöchel sich gegen ihre Brust pressten. Fühl doch, forderte sie ihn verzweifelt in Gedanken auf. Die gehört mir, die erste von zweien; die linke ist ein kleines bisschen erogener als die rechte, aber wen kümmert’s? Der Pfad verlief im Zickzack, das Dunkel lichtete sich und fühlte sich für sie heiß an, als hätte es die Tageshitze aufgesaugt. Unter ihr, zwischen den Bäumen, fiel die Stadt zurück wie ein entschwindender Planet; über ihr war sie sich nur des zackigen Dunkels von Türmen und Gerüsten bewusst. Der Verkehrslärm legte sich und überließ die Nacht den Zikaden.
    »Jetzt geh bitte langsam.«
    An seinem Ton erkannte sie, dass - was immer es sein mochte - nahe war. Wieder verlief der Pfad im Zickzack; sie kamen zu einer Holztreppe. Stufen und ein Treppenabsatz, wieder Stufen. Joseph schlug hier einen leichten Schritt an, und sie folgte seinem Beispiel, so dass sie erneut in ihrem heimlichen Tun vereint waren. Seite an Seite schritten sie durch ein breites Tor, so überwältigend groß, dass sie unwillkürlich den Kopf hob. Und als sie das tat, sah sie, wie ein roter Halbmond zwischen den Sternen herunterrutschte und seinen Platz zwischen den Säulen des Parthenons einnahm.
    »Mein Gott!« flüsterte sie. Sie kam sich fehl am Platz vor und einen Augenblick lang mutterseelenallein. Langsam ging sie voran, wie jemand, der auf eine Fata Morgana zugeht, jeden Augenblick darauf gefasst, dass sie sich in nichts auflöst, doch sie tat es nicht. Sie schritt die ganze Länge des Parthenons ab und hielt nach einer Stelle Ausschau, wo man hinaufsteigen konnte, doch an der ersten Treppe verkündete ein korrektes Schild: BETRETEN VERBOTEN! Plötzlich, aus einem unerfindlichen Grund, lief sie. Sie lief zwischen den Felsen himmelwärts auf den dunklen Rand dieser unirdischen Stadt zu und war sich nur halb bewusst, dass Joseph in seinem Seidenhemd mühelos neben ihr her trabte. Sie lachte und redete zur gleichen Zeit, sagte die Dinge, die sie, wie man ihr erzählt hatte, im Bett von sich gab - alles, was ihr in den Sinn kam. Sie hatte das Gefühl, sie könne ihren Körper hinter sich lassen und, ohne zu stürzen, in den Himmel hineinlaufen. Allmählich in Schritttempo fallend, erreichte sie die Brüstung, warf sich darauf und schaute hinunter auf die erleuchtete, vom Schwarzen Meer der Attischen Ebene umgebene Insel. Sie blickte zurück und sah ihn, wie er ein paar Schritte hinter ihr stand und sie beobachtete.
    »Danke«, sagte sie schließlich.
    Dann ging sie zu ihm, packte seinen Kopf mit beiden Händen und küsste ihn auf den Mund mit einem Kuss, der fünf Jahre dauerte, erst ohne Zunge, dann mit Zunge, sie drehte seinen Kopf hierher und dorthin und betrachtete zwischendurch seine Züge, als gelte es, die Wirkung ihrer Mühen abzumessen, und diesmal hielten sie einander lange genug umfasst, dass sie sich absolut sicher sein konnte: Ja, es funktioniert.
    »Danke, Jose«, wiederholte sie, merkte jedoch nur, dass er sich von ihr löste. Sein Kopf entglitt ihrem Griff, seine Hände gaben ihre Arme frei und schoben sie zurück an ihre Seite. Sie stand - erstaunlich - mit leeren Händen da.
    Verdattert, wütend fast starrte sie im Mondschein in sein loses Wachtposten-Gesicht. Sie ging davon aus, dass sie sie mit der Zeit alle kennengelernt hatte: die heimlichen Schwulen, die so lange blufften, bis sie anfingen zu weinen, die von dem eingebildeten Schreckgespenst

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