Die Libelle
wollte dich nicht auf ein unüberlegtes Versprechen festnageln. Das ist alles.«
»Aber es war nicht unüberlegt. Ich habe es sehr ernst gemeint.« Jetzt war er an der Reihe. Er holte einen Packen Reiseprospekte hervor. Ohne dass er sie dazu aufgefordert hatte, kam sie herum, setzte sich neben ihn und legte ihm sorglos den Arm um die Schulter, damit sie sie gemeinsam ansehen konnten. Seine Schulter war hart wie Fels und in etwa auch so innig, trotzdem nahm sie den Arm nicht wieder weg. Delphi, Jose: fabelhaft, toll. Ihr Haar lag an seiner Wange. Sie hatte es gestern abend eigens für ihn gewaschen. Olymp: hinreißend. Meteora: nie gehört. Sie berührten sich mit der Stirn. Saloniki: wow . Die Hotels, in denen sie übernachten sollten, alle Zimmer vorbestellt. Sie gab ihm einen Kuss auf den Jochbogen, gleich neben dem Auge, ein flüchtiger Kuss auf ein vorüberziehendes Ziel gedrückt. Er lächelte und drückte ihr onkelhaft die Hand, bis sie fast aufhörte, sich zu fragen, was an ihm - oder ihr - es war, das ihm das Recht gab, sie kampflos, ja ohne dass sie überhaupt die Waffen gestreckt hatte, für sich zu beanspruchen; oder woher das Wiedererkennen kam - das ›Tag, Charlie‹ -, das ihre erste Begegnung zu einem Wiedersehen alter Freunde gemacht hatte und diese hier zu einer Unterhaltung über ihre Flitterwochen. Vergiss es, dachte sie. »Du trägst nie einen roten Blazer, oder, Jose?« fragte sie, ehe sie die Frage nur richtig überlegt hatte. »Weinrot, Messingknöpfe, im Schnitt ein Hauch zwanziger Jahre?« Langsam hob er den Kopf; er wandte sich um und erwiderte ihren Blick. »Soll das ein Witz sein?« »Nein. Nur eine Frage ohne Hintergedanken.« »Einen roten Blazer? Aber warum denn um Himmels willen? Möchtest du, dass ich für deine Fußballmannschaft Reklame mache oder so etwas Ähnliches?«
»Er würde dir stehen. Das ist alles.« Er wartete immer noch auf ihre Erklärung. »Ach, so sehe ich Leute eben manchmal«, sagte sie, schon auf dem Rückzug. »Wie im Theater. In meiner Phantasie. Du kennst keine Schauspielerinnen, nicht wahr? Ich staffier’ die Leute aus - mit Bärten - allem möglichen. Du würdest dich wundern. Und kostümiere sie. Steck’ sie in Knickerbocker. Oder Uniform. In meiner Vorstellung. Es ist eine Angewohnheit von mir.«
»Möchtest du etwa, dass ich mir für dich einen Bart stehen lasse?«
»Wenn ja, lass es mich rechtzeitig wissen.«
Er lächelte, sie erwiderte das Lächeln - noch eine Begegnung übers Rampenlicht hinweg -, sein Blick ließ von ihr ab, und sie ging auf die Toilette und funkelte sich wuterfüllt im Spiegel an, während sie versuchte, ihm auf die Schliche zu kommen. Kein Wunder, dass er diese Scheiß-Schussnarben hat, dachte sie. Das müssen Frauen gewesen sein.
Sie hatten gegessen, sie hatten sich mit der Ernsthaftigkeit von Fremden unterhalten, er hatte aus einer Krokodilleder-Brieftasche die Rechnung bezahlt, die die Hälfte der Staatsschulden betragen haben musste, in welches Land auch immer er gehörte.
»Setzt du mich auf Spesen, Jose?« fragte sie ihn, als sie zusah, wie er die Quittung zusammenfaltete und einsteckte. Die Frage wurde nicht beantwortet, denn Gott sei Dank brach sein vertrautes Organisationstalent plötzlich wieder durch, und es stellte sich heraus, dass sie nur noch schrecklich wenig Zeit hatten.
»Bitte, halt nach einem müden alten Opel mit eingebeulten Kotflügeln und einem zehn Jahre alten Fahrer Ausschau«, sagte er, als er sie - ihr Gepäck über dem Arm - durch einen engen Küchenkorridor trieb. »Wird gemacht«, sagte sie.
Der Wagen wartete am Seiteneingang und hatte wie versprochen eingebeulte Kotflügel. Der Fahrer nahm ihm ihr Gepäck ab und verstaute es im Kofferraum, was sehr rasch ging. Er war sommersprossig und blond und gesund aussehend, hatte ein breites, einfältiges Grinsen aufgesetzt und sah in der Tat, wenn nicht wie zehn, so doch höchstens wie fünfzehn aus. Die heiße Nacht ließ den üblichen gemächlichen Regen niedergehen.
»Charlie, das ist Dimitri«, sagte Joseph, als er sie auf den Rücksitz verfrachtete. »Seine Mutter hat ihm heute ausnahmsweise mal erlaubt, länger aufzubleiben. Dimitri, bitte, sei so gut und bring uns zum zweitbesten Fleck auf der Welt.« Er hatte sich neben sie gesetzt. Der Motor sprang sofort an, und gleichzeitig damit begann er seinen witzigen Fremdenführermonolog. »So, Charlie, das hier ist die Heimat der modernen griechischen Demokratie, der Platz der Verfassung; versäumen
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