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Die Libelle

Die Libelle

Titel: Die Libelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John le Carré
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goldenen Manschettenknöpfe waren verschwunden, als hätte es sie nie gegeben.
    »Ich kann dir nur raten, abzuwarten und dir erst dann ein Urteil zu bilden, wenn du dir angehört hast, was diese beiden Männer dir zu sagen haben«, sagte er, ohne den Kopf zu heben und sie anzublicken, während er weiterhin mit dem Ordnen seiner Papiere beschäftigt war. »Du bist hier in guter Gesellschaft. In besserer, als du es gewohnt bist, würde ich sagen. Du hast viel zu lernen, und - wenn du Glück hast - viel zu tun. Spar dir also deine Energie auf«, riet er ihr in einem Ton, als führte er sich selbst wie abwesend eine Aktennotiz zu Gemüte. Und fuhr fort, sich mit seinen Unterlagen zu beschäftigen.
    Er macht sich nichts aus mir, dachte sie bitter. Er hat seine Bürde abgesetzt, und diese Bürde war ich. Die beiden Männer am Tisch standen immer noch und warteten offenbar darauf, dass sie sich setzte, was an sich schon ein Wahnsinn war. Wahnsinn, sich einem Mädchen gegenüber höflich zu verhalten, das man gerade eben entführt hatte, Wahnsinn, sie darüber belehren zu wollen, was gut ist, Wahnsinn, sich zu Verhandlungen mit seinen Entführern hinzusetzen, nachdem man eine schöne Tasse Tee getrunken und sich ein wenig zurechtgemacht hatte. Trotzdem setzte sie sich. Kurtz und Litvak ebenfalls. »Wer hat die Karten?« platzte sie witzig heraus und wischte sich mit den Knöcheln eine verlorene Träne ab. Sie sah eine abgenutzte braune Aktentasche zwischen den beiden auf dem Boden stehen, die jedoch nicht weit genug offen stand, um hineinblicken zu können. Ja, bei den Papieren auf dem Tisch handelte es sich in der Tat um ihre Zeitungsausschnitte, und obwohl Mike sie bereits in einen Hefter wegpackte, hatte sie keinerlei Schwierigkeit, sie als Ausschnitte über sich und ihre Karriere zu erkennen.
    »Und ihr habt die Richtige, da seid ihr ganz sicher, oder?« sagte sie entschlossen und wandte sich dabei an Litvak in der irrtümlichen Annahme, da er so spindeldürr sei, müsse er auch leichter zu beeindrucken sein. Im Grunde war es ihr jedoch gleichgültig, an wen sie sich wandte, solange es ihr nur gelang, sich über Wasser zu halten. »Nur, wenn ihr hinter den drei maskierten Männern her seid, die die Bank auf der Fifty-second Street überfallen haben - die sind in die entgegengesetzte Richtung gelaufen. Ich bin nur zufällig die unschuldige Zeugin, die gerade eine Frühgeburt hatte.«
    »Charlie, es besteht nicht der allergeringste Zweifel, dass wir die richtige haben«, rief Kurtz entzückt und hob beide dicken Arme gleichzeitig vom Tisch. Er sah zu Litvak hinüber, dann durchs Zimmer auf Joseph, ein wohlwollender, gleichwohl hartberechnender Blick, und gleich darauf legte er los und sprach mit jener animalischen Kraft, mit der er im Laufe seiner ungewöhnlichen Karriere Quilley und Alexis und unzählige andere unwahrscheinliche Mitarbeiter überwältigt hatte; sprach mit demselben volltönenden europäisch-amerikanischen Akzent und denselben hackenden Bewegungen des Unterarms.
    Aber Charlie war Schauspielerin, und ihr beruflicher Instinkt war nie sicherer gewesen. Weder Kurtz’ Redeschwall noch ihre eigene Verblüffung über die Tatsache, dass man ihr Gewalt angetan hatte, hatten ihr vielfaseriges Wahrnehmungsvermögen in Bezug auf das, was im Raum vorging, einzuschläfern vermocht. Wir stehen auf der Bühne, dachte sie; Schauspieler und Zuschauer. Als die jungen Wachen sich im Halbdunkel am Rand verteilten, hörte sie förmlich, wie die Zuspätkommenden sich auf der anderen Seite des Vorhangs auf Zehenspitzen tastend auf ihre Plätze stahlen. Das Bühnenbild erinnerte sie jetzt, als sie es prüfend betrachtete, an das Schlafzimmer eines abgesetzten Tyrannen; ihre Häscher an die Freiheitskämpfer, die ihn verjagt hatten. Hinter Kurtz, der ihr mit seiner breiten, väterlichen Stirn gegenübersaß, erkannte sie auf dem abbröckelnden Putz den schattenhaft-hellen Abriss vom Kopfende eines verschwundenen kaiserlichen Bettes. Hinter dem ausgemergelten Litvak hing - strategisch zur Lust längst verblichener Liebespaare aufgehängt - ein Spiegel mit verschnörkeltem Goldrahmen. Die nackten Dielenbretter sorgten für ein hohl klingendes bühnengerechtes Echo; das von oben kommende Licht brachte das Eingefallene im Gesicht der beiden Männer sowie das Abgerissene ihrer Partisanenuniform zur Geltung. Charlie konnte diesen Vergleich mangels Erfahrung zwar nicht anstellen, doch statt des glänzenden Madison Avenue-Anzugs trug

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