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Die Libelle

Die Libelle

Titel: Die Libelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John le Carré
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hoffen. Im Moment möchten wir von Ihnen aber hören, ob Sie uns überhaupt vorsprechen wollen oder ob es Ihnen lieber ist, jedem hier gute Nacht zu sagen und nach Hause zu einem sichereren, weniger glanzvollen Leben zurückzukehren. Wie sieht’s aus?«
    Was er ihr da suggerierte, war ein falscher Höhepunkt. Er wollte ihr ebensosehr das Gefühl von Eroberung wie von Unterwerfung einflößen. Das Gefühl, sich ihre Bewacher selbst ausgesucht zu haben.
    Sie hatte eine Baumwolljacke an, und einer der Blechknöpfe hing nur noch an einem Faden; heute morgen, als sie die Jacke anzog, hatte sie sich vorgenommen, den Knopf während der Überfahrt auf dem Schiff anzunähen, das jedoch dann in ihrer Aufregung, Joseph wieder zu sehen, prompt vergessen. Jetzt nahm sie den Knopf zwischen zwei Finger und prüfte, wie fest der Faden war. Sie stand mitten auf der Bühne. Sie spürte, wie aller Augen auf sie gerichtet waren, vom Tisch her, aus den Schatten, hinter ihr. Sie spürte, wie sich ihre Körper vor Spannung reckten, auch Josephs, hörte den straffen, knackenden Laut, den Zuschauer machen, wenn man sie gepackt hat. Sie spürte, was sie wollten und ihre eigene Macht: wird sie, wird sie nicht?
    »Jose?« fragte sie, ohne den Kopf zu wenden.
    »Ja, Charlie?«
    Noch immer wandte sie sich nicht nach ihm um, wusste aber ganz genau, dass er auf seiner im Lichtkegel der Leselampe daliegenden Insel noch gespannter auf ihre Antwort wartete als alle anderen.
    »Das ist sie, oder? Unsere große romantische Rundreise durch Griechenland? Delphi, alle zweitbesten Orte?«
    »Unsere Fahrt Richtung Norden wird in keiner Weise beeinträchtigt werden«, erwiderte Joseph und parodierte damit leicht Kurtz’ Ausdrucksweise.
    »Nicht einmal verschoben?«
    »Ich würde sogar meinen, sie steht unmittelbar bevor.« Der Faden riss, der Knopf lag auf ihrer Handfläche. Sie warf ihn auf den Tisch, verfolgte, wie er kreiselte und dann zur Ruhe kam. Kopf oder Wappen, dachte sie und wirbelte ihn umher. Sollten sie doch noch ein bisschen länger schwitzen. Sie stieß etwas Luft aus, als wollte sie sich ihre Stirnlocke aus der Stirn blasen.
    »Nun ja, dann bleib’ ich eben fürs Vorsprechen erst einmal da, ja?« sagte sie zu Kurtz, ohne irgend etwas anderes anzusehen als den Knopf. »Ich hab’ nichts zu verlieren«, fügte sie hinzu, wünschte jedoch sogleich, sie hätte es nicht gesagt. Bisweilen tat sie für einen guten Abgang des Guten zuviel, und hinterher ärgerte sie das dann. »Nicht, dass ich nicht ohnehin schon verloren hätte«, sagte sie. Vorhang, dachte sie; Applaus, bitte, Joseph, und dann warten wir auf die Kritiken von morgen. Es kamen jedoch keine, und so griff sie wieder nach ihrem Kugelschreiber und zeichnete zur Abwechslung mal eine ›Frau‹ während Kurtz, vielleicht ohne sich dessen bewusst zu sein, seine Uhr an eine andere, bessere Stelle legte. Folglich konnte das Verhör nun mit Charlies freundlicher Zustimmung im Ernst beginnen. Langsamkeit ist eines, Konzentration etwas anderes. Kurtz erlahmte auch nicht für eine Sekunde; er gestattete weder sich noch Charlie so etwas wie eine Atempause, als er ihr seinen Willen aufzwang, ihr schmeichelte und sie einlullte und wachrüttelte und sich selbst kraft seines dynamischen Einsatzes in ihrer sich entwickelnden Bühnen-Partnerschaft an sie band. Nur Gott und ein paar Leute in Jerusalem, hieß es innerhalb seiner Behörde, wüssten, wo Kurtz sein Repertoire herhatte - seine hypnotische Intensität, seine schleppende amerikanisierte Prosa, sein Fingerspitzengefühl und seine Winkeladvokatentricks. Sein zerschnittenes Gesicht, das mal Beifall zollte, sich mal betreten-ungläubig zeigte und mal die Ermutigung ausstrahlte, die sie brauchte - dieses Gesicht wurde nach und nach zu einem ganzen Publikum, so dass ihre ganze Darstellung nur noch darauf abzielte, von ihm die verzweifelt begehrte Zustimmung zu erringen und von niemand sonst. Sogar Joseph war vergessen, beiseite gelegt für ein anderes Leben.
    Die ersten Fragen, die Kurtz stellte, waren mit Vorbedacht zusammenhanglos und harmlos. Es war, dachte Charlie, als ob er im Geiste ein leeres Antragsformular für die Ausstellung eines Passes vor sich hätte und Charlie, ohne dass sie sie sehen konnte, die Kästchen dann ausfüllte. Vollständiger Name Ihrer Mutter, Charlie. Geburtstag und -ort Ihres Vaters, falls Sie’s wissen, Charlie. Beruf des Großvaters; nein, Charlie, väterlicherseits. Folgte aus unerfindlichen Gründen die Frage

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