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Die Libelle

Die Libelle

Titel: Die Libelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John le Carré
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nach der letzten bekannten Adresse einer Tante mütterlicherseits, wiederum gefolgt von der Frage nach irgendeinem geheimnisvollen Detail im Werdegang ihres Vaters. Keine einzige von diesen Fragen zu Anfang hatte auch nur das geringste mit ihr zu tun, und das wollte Kurtz auch gar nicht. Charlie war wie das verbotene Thema, dem er geflissentlich aus dem Wege ging. Der Zweck dieses ganzen einleitenden fröhlichen Trommelfeuers bestand nicht darin, irgendwelche Information aus ihr herauszuholen, sondern darin, die instinktive Gehorsamkeit, jene ›Ja, Herr Lehrer, nein, Herr Lehrer‹ -Haltung der Schule in ihr zu wecken, von der abhing, was sich später zwischen ihnen abspielen würde; und Charlie ihrerseits, bei der zunehmend die Schauspielerin angesprochen wurde, spielte, gehorchte und reagierte immer willfähriger. Hatte sie das nicht für Regisseure und Produzenten hundertmal getan - den Stoff harmloser Konversation benutzt, um ihnen ein Beispiel für die ganze Bandbreite ihres Könnens zu geben? Um so mehr Grund, das jetzt unter Kurtz’ hypnotischer Ermutigung auch zu tun.
    »Heidi?« wiederholte Kurtz echogleich. » Heidi ? Das ist aber ein verdammt komischer Name für eine ältere englische Schwester, finden Sie nicht auch?«
    »Nein, für Heidi nicht«, erwiderte sie strahlend und konnte einen spontanen Lacher von den jungen Zuhörern auf der anderen Seite der Beleuchtung für sich verbuchen. Heidi, weil ihre Eltern ihre Hochzeitsreise in die Schweiz gemacht hätten, wie sie erklärte - wo Heidi empfangen worden sei. »Inmitten von Edelweiß«, fügte sie aufseufzend hinzu. »In der Missionars-Stellung.«
    »Aber warum denn Charmian ?« fragte Marty, nachdem sich das Gelächter gelegt hatte.
    Charlie hob die Stimme, um die sämige Sprechweise ihrer Scheiß-Mutter wiederzugeben: »Auf den Namen Charmian verfielen wir in der Absicht, einer reichen entfernten Verwandten dieses Namens zu schmeicheln.«
    »Und hat es sich bezahlt gemacht?« fragte Kurtz und neigte den Kopf, um etwas mitzubekommen, was Litvak versuchte ihm zuzuflüstern.
    »Bis jetzt noch nicht«, erklärte Charlie ausgelassen, aber immer noch im köstlichen Tonfall ihrer Mutter. »Vater hat das Zeitliche gesegnet, wissen Sie, aber Cousine Charmian muss ihm leider noch nachfolgen.«
    Nur über diese und viele ähnliche harmlose Umwege näherten sie sich schrittweise dem Thema Charlie selbst.
    » Waage «, murmelte Kurtz voller Genugtuung, als er ihr Geburtsdatum hinschrieb. Gewissenhaft, aber ohne sich lange damit aufzuhalten, trieb er sie durch ihre frühe Kindheit - Pensionate, Häuser, Namen früherer Freunde und Ponys -, und Charlie antwortete ihm auf ihre Weise, ausführlich, manchmal humorvoll und immer bereitwillig, wobei ihr glänzendes Gedächtnis von der steten Glut seiner Aufmerksamkeit und ihrem wachsenden Bedürfnis, mit ihm zurechtzukommen, erhellt wurde. Von den Schulen und von der Kindheit war es ein natürlicher Schritt - bei dem Kurtz freilich größte Zurückhaltung zeigte - zur schmerzlichen Geschichte vom Ruin ihres Vaters, die Charlie mit stillen, aber um so rührenderen Einzelheiten vor ihnen ausbreitete, von dem schrecklichen Augenblick an, da ihr die Nachricht brutal beigebracht worden war, bis zum Trauma des Prozesses, der Verurteilung und der Einkerkerung. Ab und zu, das stimmte, geriet sie ein wenig ins Stocken; es kam auch vor, dass ihr Blick sich prüfend auf ihre Hände senkte, die so hübsch und ausdrucksvoll in dem von oben herabfallenden Licht spielten; dann kam ihr wohl eine tapfere, leicht selbstironische Bemerkung über die Lippen, die alles fortblies.
    »Es wäre für uns ja alles nicht so schlimm gewesen, wenn wir zur Arbeiterklasse gehört hätten«, sagte sie einmal mit einem klugen und hoffnungslosen Lächeln. »Dann bekommt man eben seine Entlassung, man ist überflüssig, die Kräfte des Kapitals stellen sich einem in den Weg - so ist das Leben nun mal, das ist die Wirklichkeit, man weiß, woran man ist. Aber wir gehörten nun mal nicht zur Arbeiterklasse. Wir waren wir. Immer auf der Seite der Gewinner. Und plötzlich standen wir dann auf der Seite der Verlierer.« »Schlimm«, sagte Kurtz ernst und schüttelte den mächtigen Kopf. Er ging noch einmal zurück und bohrte nach den soliden Fakten: Zeit und Ort, an dem der Prozess stattgefunden hat, Charlie; die genaue Länge der Haftstrafe, Charlie; die Namen der Rechtsanwälte, falls sie sich an die erinnere. Das tat sie zwar nicht, doch wo immer sie

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