Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Libelle

Die Libelle

Titel: Die Libelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John le Carré
Vom Netzwerk:
konnte, gab sie ihm Auskunft, und Litvak notierte ihre Antworten ordnungsgemäß, so dass Kurtz seine ganze wohlwollende Aufmerksamkeit ihr zuwenden konnte. Alles Lachen hatte sich mittlerweile vollständig gelegt. Es war, als ob der Ton ausgefallen wäre, bis auf ihren und Martys. Kein Knarren, kein Husten, nirgendwoher ein unfreundliches Füßescharren. Noch nie in ihrem ganzen Leben, so kam es Charlie vor, hatte sie ein so aufmerksames und aufgeschlossenes Publikum gehabt. Sie haben Verständnis, dachte sie. Sie wissen, was es heißt, ein Nomadenleben zu führen; auf die eigenen Mittel zurückgeworfen zu sein, wenn die Karten gegen einen sind. Einmal gingen auf einen leisen Befehl von Joseph hin die Lichter aus, und sie warteten gemeinsam und lautlos wie bei einem Fliegerangriff in der undurchdringlichen Dunkelheit. Charlie genauso wie die anderen, bis Joseph Entwarnung gab und Kurtz seine geduldigen Fragen wiederaufnahm. Hatte Joseph wirklich etwas gehört, oder war das ihre Art, ihr zu verstehen zu geben, dass sie dazugehörte? Die Wirkung auf Charlie war in jedem Fall dieselbe; während dieser wenigen spannungsgeladenen Augenblicke war sie ihre Mitverschworene, die nicht daran dachte, sich in Sicherheit zu bringen.
    Bei anderer Gelegenheit, als sie vorübergehend den Blick von Kurtz losriss, sah sie die jungen Leute auf ihrem Posten dösen: Raoul aus Schweden, den strohblonden Kopf auf die Brust gesunken und die Sohle eines dicken Laufschuhs flach gegen die Wand gedrückt; Rose aus Südafrika, gegen die Doppeltür gelehnt, die Sprinterinnenbeine von sich gestreckt und die langen Arme vor der Brust verschränkt; und Rachel, das Mädchen aus dem Norden Englands, das Gesicht von den fittichgleichen Strähnen ihrer schwarzen Haare eingerahmt, die Augen halb geschlossen, gleichwohl mit ihrem sanften sinnlichen, in Erinnerungen schwelgenden Lächeln. Doch der geringste von außen kommende Laut machte sie augenblicklich hellwach.
    »Unter welcher Überschrift ließe sich das Ganze nun zusammenfassen, Charlie?« fragte Kurtz freundlich. »Ich meine, die ganze erste Zeit Ihres Lebens bis zu dem, was wir den Sündenfall nennen könnten...«
    »Das Zeitalter der Unschuld, Marty?« schlug sie, von dem Wunsch zu helfen beseelt, vor. »Genau. Ihr Zeitalter der Unschuld. Wie würden Sie es charakterisieren?«
    »Es war die Hölle.«
    »Möchten Sie ein paar Gründe nennen, warum?« »Ich hab’s in den Vororten verbracht, im Establishment - reicht das nicht?«
    »Nein, das reicht nicht.«
    »Ach, Marty - Sie sind so...« Ihre erschlaffende Stimme. Der Ton inniger Verzweiflung. Kraftlose Gesten der Hände. Wie sollte sie das jemals erklären? »Für Sie ist das nichts Schlimmes, Sie sind Jude, begreifen Sie? Sie haben diese phantastischen Traditionen, die Sicherheit. Selbst wenn Sie verfolgt werden, wissen Sie noch, wer Sie sind und warum alles so ist.«
    Kurtz musste das bekümmert einräumen.
    »Aber für uns - die Kinder aus den reichen englischen Vororten - kann man das vergessen. Wir hatten keine Traditionen, keinen Glauben, kein Selbstbewusstsein, gar nichts.«
    »Aber Sie haben uns doch gesagt, Ihre Mutter sei katholisch gewesen.«
    »Weihnachten und Ostern. Die reine Heuchelei. Wir leben schließlich in der nachchristlichen Zeit, Marty. Hat Ihnen das noch nie jemand gesagt? Wenn der Glaube schwindet, hinterlässt er ein Vakuum. In dem leben wir.«
    Während sie dies sagte, bemerkte sie, dass Litvak seine glühenden Augen auf sie gerichtet hatte, und bekam eine erste Ahnung von seinem rabbinischen Zorn.
    »Gingen Sie nicht zur Beichte?« fragte Kurtz.
    »Das können Sie sich abschminken. Mum hatte nichts zu beichten. Dann besteht ja gerade ihre ganze Schwierigkeit. Kein Spaß, keine Sünde, gar nichts. Nichts weiter als Apathie und Angst. Angst vorm Leben, Angst vorm Tod, Angst vor den Nachbarn - Angst . Irgendwo draußen gab es Menschen, die echt lebten. Bloß wir nicht. Nicht in Rickmansworth. Nichts zu machen. Ich meine, Himmel - für Kinder -, ich meine Kastrationsgerede !«
    »Und Sie - keine Angst?«
    »Nur davor, so zu sein wie Mum.«
    »Und was ist mit der Vorstellung, die wir alle haben - vom alten England, das von seiner traditionellen Lebensweise durchdrungen ist?«
    »Das können Sie vergessen.«
    Kurtz lächelte und schüttelte sein weises Haupt, als wollte er sagen, man lernt doch immer noch was dazu.
    »Und da haben Sie, sobald Sie die Möglichkeit dazu hatten, Ihr Elternhaus verlassen und Zuflucht auf

Weitere Kostenlose Bücher