Die Libelle
war und abgehackt vom Theater des Wirklichen gesprochen hatte. »Es geht also um ein Stück«, meinte sie. »Warum sagen Sie das denn nicht klipp und klar.«
»In gewissem Sinn ist es ein Stück«, pflichtete Kurtz ihr bei. »Und von wem stammt es?«
»Die Handlung bestimmen wir, Joseph schreibt den Dialog. Unter tatkräftiger Mithilfe von Ihnen.«
»Und wer sind die Zuschauer?« Mit einer Geste wies sie auf die Schatten. »Diese reizenden Vögel hier?«
Der feierliche Ernst bei Kurtz kam genauso überraschend und ehrfurchtsheischend wie die Güte. Seine Arbeiterhände fanden einander auf dem Tisch, sein Kopf neigte sich darüber, und nicht einmal der entschlossenste Skeptiker hätte abgestritten, dass das etwas sehr Überzeugendes hatte. »Charlie, da draußen gibt’s Leute, die niemals das Vergnügen haben werden, das Stück aufgeführt zu sehen, ja, die nicht einmal wissen, dass es überhaupt gespielt wird, aber die Ihnen trotzdem ihr Leben lang dankbar sein werden. Unschuldige Menschen. Genau die, die Ihnen immer am Herzen gelegen haben, für die Sie versucht haben einzutreten, für die Sie auf die Straße gegangen sind und denen Sie haben helfen wollen. Bei allem, was von jetzt an geschieht, müssen Sie sich das immer vor Augen halten, sonst werden Sie uns verlieren und zweifellos auch sich selbst verlieren, das ist gar keine Frage.«
Sie versuchte, den Blick von ihm abzuwenden. Seine Beredsamkeit war zu groß, das war zuviel; sollte er sie doch an jemand anders ausprobieren.
»Wer, verdammt noch mal, sind Sie, um sagen zu können, wer unschuldig ist?« hielt sie ihm wieder entgegen und wappnete sich gegen die Flut seiner Überredungskünste. »Sie meinen, weil wir Israelis sind, Charlie?«
»Ich meine Sie«, erwiderte sie und umschiffte die gefährliche Klippe.
»Ich würde Ihre Frage lieber ein bisschen umdrehen und sagen, dass unserer Ansicht nach jemand schon sehr viel Schuld auf sich geladen haben muss, ehe er es verdient zu sterben.«
»Wie zum Beispiel? Wer verdient zu sterben? Die armen Schweine, die ihr auf der Westbank umlegt? Oder die ihr im Libanon bombardiert?« Wie um alles auf der Welt waren sie nur dazu gekommen, vom Tod zu reden? fragte sie sich, noch während sie die verrückte Frage stellte. Hatte sie damit angefangen? Oder er? Egal. Er war schon dabei, seine Antwort abzuwägen.
»Nur diejenigen, die mit allem brechen, was Menschen verbindet«, erklärte Kurtz, unbeirrt mit Nachdruck. « Die verdienen den Tod.« Eigensinnig rannte sie weiter gegen ihn an. »Gibt es solche Juden?«
»Juden - selbstverständlich. Und natürlich auch Israelis, nur gehören wir nicht dazu, und Gott sei Dank sind es auch nicht sie, mit denen wir uns heute herumschlagen müssen.« Er besaß die Autorität, so zu reden. Er gab die Antworten, nach denen Kinder verlangen. Er besaß den Hintergrund, und alle im Raum wussten das, Charlie eingeschlossen: dass er nämlich ein Mann war, der nur von Dingen redete, die er selbst erfahren hatte. Wenn er Fragen stellte, wusste man, dass er selbst verhört worden war. Wenn er Befehle erteilte, wusste man, dass er den Befehlen anderer gehorcht hatte. Wenn er vom Tod sprach, war klar, dass ihm der Tod oft begegnet war, dass er ihn gestreift hatte und ihm jederzeit wieder begegnen konnte. Und wenn er ihr wie jetzt eine Warnung zukommen ließ, hatte er offensichtlich eine Ahnung, wovon er sprach: »Verwechseln Sie unser Stück nicht mit Unterhaltung, Charlie«, sagte er ernst zu ihr. »Es geht hier nicht um irgendeinen verwunschenen Wald. Wenn die Lichter auf der Bühne ausgehen, herrscht auf der Straße draußen dunkle Nacht. Wenn die Schauspieler lachen, werden sie glücklich sein, und wenn sie weinen, dann haben sie aller Wahrscheinlichkeit nach wirklich einen schmerzlichen Verlust erlitten, der ihnen das Herz bricht. Und wenn sie verwundet werden - und das wird geschehen, Charlie -, werden sie bestimmt nicht in der Lage sein, sobald der Vorhang gefallen ist, aufzuspringen und zum letzten Bus nach Hause zu laufen. Hier wird nicht zimperlich vor den scheußlicheren Szenen weggelaufen oder krankgefeiert. Dieses Stück besteht nur aus Höhepunkten, die den ganzen Einsatz erfordern. Wenn Ihnen das gefällt, wenn Sie meinen, damit fertig zu werden - und davon sind wir überzeugt -, dann hören Sie uns bis zu Ende an. Sonst machen wir mit dem Vorsprechen lieber gleich Schluss.« An dieser Stelle mischte sich Shimon Litvak heiser in seiner gedehnt europäischbostonischen
Weitere Kostenlose Bücher