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Die Libelle

Die Libelle

Titel: Die Libelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John le Carré
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Linie liegt?«
    »Weil wir keine Woche Zeit haben, die Niederschriften zu lesen«, erwiderte Kurtz, während Litvak weiterschrieb. »Das Ohr wählt aus, verstehen Sie, meine Liebe. Das tun Geräte nicht. Geräte sind unökonomisch. Können Sie Che Guevara wirklich zitieren, Charlie?« wiederholte er, während sie warteten. »Nein, natürlich kann ich das nicht, verdammt noch mal.«
    Hinter ihr - ihr kam es vor, als wäre er einen Kilometer weit weg - modifizierte Josephs körperlose Stimme sanft ihre Antwort. »Aber sie könnte es, wenn sie ihn auswendig lernte. Sie hat ein phantastisches Gedächtnis«, versicherte er ihnen mit einem Hauch von Schöpferstolz. »Sie braucht nur was zu hören, und schon hat sie’s intus. Sie könnte in einer Woche seine gesamten Schriften auswendig lernen, wenn sie wollte.«
    Warum hatte er gesprochen? Versuchte er, die Wogen zu glätten? Zu warnen? Oder sich zwischen Charlie und ihre unmittelbare Vernichtung zu stellen? Aber Charlie war nicht in der Stimmung, auf seine Feinheiten einzugehen, und Kurtz und Litvak besprachen sich wieder, diesmal auf Hebräisch.
    »Hättet ihr was dagegen, in meiner Anwesenheit englisch zu sprechen, ihr beiden?« wollte sie wissen.
    »Gleich, meine Liebe«, sagte Kurtz freundlich und redete weiter hebräisch.
    Mit demselben klinischen Vorgehen - ausschließlich für unsere Unterlagen, Charlie - führte Kurtz sie übergewissenhaft durch die noch verbliebenen widersprüchlichen Artikel ihres wenig gefestigten Glaubens. Charlie fuchtelte mit den Armen herum und wütete und fuchtelte nochmals mit den Armen, sie tat es mit der wachsenden Verzweiflung der Halbgebildeten. Kurtz, der nur selten kritisierte und immer höflich blieb, warf zwischendurch einen Blick in seine Papiere, hielt inne, um sich mit Litvak zu beraten, oder notierte sich für seine eigenen undurchsichtigen Zwecke ein paar Dinge auf seinem Block. Während sie verbissen weiterirrte, kam sie selbst sich wie bei einem jener improvisierten Lehrstücke in der Schauspielschule vor und bemühte sich, in eine Rolle hineinzuschlüpfen, die ihr -je weiter sie kam - immer unverständlicher vorkam. Sie beobachtete ihre eigenen Gesten, doch die schienen mit dem, was sie sagte, nichts mehr zu tun zu haben. Sie protestierte, also war sie frei. Sie schrie, also protestierte sie. Sie lauschte ihrer Stimme, und die gehörte überhaupt niemand. Dem Bettgeflüster mit einem längst vergessenen Liebhaber entnahm sie einen Satz von Rousseau, von irgendwo anders her holte sie sich eine Stelle von Marcuse. Sie sah, wie Kurtz sich zurücklehnte, die Augen niederschlug, nickte und den Bleistift hinlegte - also war entweder sie fertig, oder er war es. Aber sie fand, dass sie sich trotz des hervorragenden Publikums und der Erbärmlichkeit ihres Textes ganz gut gehalten hatte. Kurtz schien das gleichfalls so zu sehen. Ihr war wohler zumute, und sie hatte das Gefühl, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Kurtz erging es offensichtlich ebenso. »Charlie, ich muss Sie einfach beglückwünschen«, erklärte er. »Sie haben sich sehr ehrlich und sehr freimütig geäußert, und dafür danken wir Ihnen.«
    »Das tun wir wirklich«, murmelte Litvak, der Schreiber. »Geschenkt«, erwiderte sie und kam sich hässlich und überhitzt vor.
    »Haben Sie was dagegen, wenn ich jetzt ein bisschen Struktur in das Ganze bringe«, fragte Kurtz.
    »Ja, das hab’ ich.«
    »Wieso denn das?« sagte Kurtz, zeigte aber keinerlei Überraschung.
    »Wir sind eine Alternative, deshalb. Wir sind keine Partei, wir sind nicht organisiert, wir haben kein fest umrissenes Programm. Und wir pfeifen auf jede Scheiß-Struktur.«
    Sie wünschte, sie könnte irgendwie aus der verdammten Scheiße heraus. Oder dass ihr die Flucherei in dieser nüchternen Gesellschaft müheloser über die Lippen käme.
    Kurtz ließ es sich trotzdem nicht nehmen, Struktur in das Ganze zu bringen, und bemühte sich betont, dabei sehr gewissenhaft vorzugehen.
    »Was wir hier vor uns haben, Charlie, scheint einerseits die Grundvoraussetzung des klassischen Anarchismus zu sein, wie er vom achtzehnten Jahrhundert an bis heute gepredigt wird.« »Ach du dickes Ei!«
    »Und zwar die Ablehnung jeglicher Reglementierung. Womit wir es hier zu tun haben, das ist die Überzeugung, dass jede Regierung von Übel ist, dass folglich auch der Nationalstaat von Übel ist, das Bewusstsein, dass beide zusammen im Widerspruch zur freien Entfaltung des Individuums stehen. Sie fügen noch ein

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