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Die Libelle

Die Libelle

Titel: Die Libelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John le Carré
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brachte es sogar fertig zu lachen - ein volltönendes Lachen, auch wenn von den Schatten kein Echo kam. »Aber, Marty, das war ein Interview, das ich gegeben habe«, sagte sie nachsichtig, weil er ein so ernstes Gesicht machte.
    »Ja, und?«
    »In Interviews motzt man die eigene Vergangenheit doch immer ein bisschen auf, um sie interessant zu machen.« »Haben Sie das hier bei uns etwa auch gemacht?« »Selbstverständlich nicht.«
    »Quilley, Ihr Agent, hat irgendeinem Bekannten von uns vor kurzem erzählt, Ihr Vater sei im Gefängnis gestorben. Keineswegs zu Hause. Auch aufgemotzt?«
    »Das hat Ned erzählt, nicht ich.«
    »Richtig. Also gut. Einverstanden.«
    Er klappte den Ordner zu, immer noch nicht überzeugt.
    Sie konnte nicht anders. Sie drehte sich auf dem Stuhl um, wandte sich an Joseph und bat ihn indirekt, ihr aus der Klemme zu helfen. »Wie läuft es, Jose - gut?« »Sehr wirksam, würde ich sagen«, erwiderte er und beschäftigte sich auch weiterhin mit seinen eigenen Sachen. »Besser als in der Heiligen Johanna ?«
    »Aber, meine liebe Charlie - dein Text ist weit besser als der von Shaw.«
    Er gratuliert mir nicht, sondern tröstet mich, dachte sie bekümmert. Aber warum war er nur so streng mit ihr. So spröde? Warum gab er sich so unnahbar, nachdem er sie doch hierher gebracht hatte? Rose aus Südafrika brachte ein Tablett mit Sandwiches. Rachel folgte ihr mit Keksen und einer Thermoskanne süßem Kaffee. »Wird hier niemals geschlafen?« beschwerte Charlie sich und griff zu. Doch niemand hörte ihre Frage. Oder vielmehr, weil alle sie durchaus gehört hatten, ging keiner darauf ein.
    Die leichte, die mühelose Zeit war vorbei, und jetzt kam die lang erwartete gefährliche Phase, die Zeit der erhöhten Wachsamkeit vor Tagesanbruch, da ihr Kopf am klarsten und ihr Zorn am heftigsten war - mit anderen Worten die Zeit, da Charlies zurückgestellte politische Einstellung - von der Kurtz ihr versichert hatte, dass sie alle tiefste Hochachtung davor hätten - hervorgeholt und ihr Dampf gemacht werden sollte. Wieder lag alles in Kurtz’ Händen und lief nach einer bestimmten Reihenfolge und festgelegten Logik ab. Frühe Einflüsse, Charlie. Daten, Orte, Menschen, Charlie: Nennen Sie uns Ihre fünf Grundsätze, von denen Sie sich leiten lassen, ihre ersten zehn Begegnungen mit der militanten Alternative. Aber Charlie war nicht mehr nach Objektivität zumute. Ihr toter Punkt war vorüber, und jetzt begann ein Gefühl des Aufbegehrens in ihr zu rumoren, wie die Munterkeit ihrer Stimme und ihre flink hin und her schießenden Blicke ihnen hätten verraten sollen. Sie hatte sie alle satt bis obenhin. War es leid, in dieser Waffenbrüderschaft auch noch hilfreich zu sein, mit verbundenen Augen von einem Raum in den anderen geführt zu werden, ohne zu wissen, was diese durchtrainierten, sie willkürlich führenden Hände an ihrem Ellbogen machten und was diese klugen Stimmen ihr ins Ohr flüsterten. Das Opfer in ihr wartete nur darauf, endlich kämpfen zu können.
    »Charlie, was Sie uns jetzt sagen, ist ausschließlich, wirklich ausschließlich für die Unterlagen bestimmt«, erklärte ihr Kurtz. »Haben wir es erst mal in unseren Unterlagen festgehalten, werden wir in der Lage sein, Ihnen ein paar Schleier abzunehmen«, versicherte er ihr. Trotzdem ließ er sich nicht davon abbringen, sie noch einmal durch einen ermüdenden Katalog von Demos und Sit-ins, Protestmärschen und Besetzungen und Samstag-nachmittag-Revolutionen hindurchzuführen und sie in jedem einzelnen Fall nach dem auszufragen, was er ›die Beweggründe‹ nannte, die hinter ihren Handlungen gestanden hätten.
    »Himmelherrgott, hören Sie endlich auf, uns kritisch zu beurteilen, ja?« fuhr sie ihn an. »Man kann uns nicht logisch erklären, wir verfügen nicht über besondere Informationen, wir sind nicht organisiert...«
    »Ja, was sind Sie dann, meine Liebe?« fragte Kurtz mit heiligmäßiger Freundlichkeit.
    »Und lieb sind wir auch nicht. Wir sind Menschen . Erwachsene Menschen, kapiert? Hören Sie also endlich auf, mich zu quälen!«
    »Charlie, wir quälen Sie doch nicht. Niemand hier will Sie quälen.« »Ach, ihr könnt mich alle mal!«
    Sie hasste sich in dieser Stimmung. Hasste die Schroffheit, die in ihr durchbrach, wenn man sie in die Ecke trieb. Sie sah sich, wie sie furchtlos mit ihren schwachen Frauenfäusten gegen eine riesige Holztür hämmerte, während ihre kreischende Stimme mit gefährlich unüberlegten Schlagworten

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