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Die Libelle

Die Libelle

Titel: Die Libelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John le Carré
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paar moderne Einstellungen hinzu. Also etwa Ihre Ablehnung von Langeweile, Wohlstand, von dem, was man, wenn ich nicht irre, das klimatisierte Elend des westlichen Kapitalismus nennt. Sie selbst erinnern dann noch an das wahre Elend, in dem drei Viertel der Weltbevölkerung dahinvegetieren. Richtig, Charlie? Haben Sie dagegen was einzuwenden? Oder können wir uns das ›Ach du dickes Ei‹ diesmal schenken?«
    Sie würdigte ihn keiner Antwort, sondern zog es vor, mit verzerrtem Gesicht ihre Fingernägel zu betrachten. Himmelherrgott - was spielten Theorien heutzutage noch für eine Rolle? wollte sie sagen. Die Ratten haben das Schiff bereits in Besitz genommen, so einfach ist das häufig. Alles andere ist narzisstischer Quatsch. Musste es sein.
    »In der heutigen Welt«, fuhr Kurtz ungerührt fort, »in der heutigen Welt haben Sie, so würde ich meinen, mehr gute Gründe, sich zu dieser Ansicht zu bekennen, als Ihre Vorväter je hatten, schon allein deshalb, weil die Nationalstaaten heutzutage mächtiger sind denn je; das gleiche gilt für die großen Gesellschaften und für die Gelegenheiten zur Reglementierung.«
    Ihr ging auf, dass er sie führte, doch sah sie keinerlei Möglichkeit mehr, ihn davon abzuhalten. Er unterbrach sich, um ihr Gelegenheit zu geben, etwas dazu zu sagen, doch blieb ihr nichts anderes übrig, als das Gesicht abzuwenden und ihre wachsende Unsicherheit hinter einer Maske zorniger Ablehnung zu verbergen.
    »Sie sind gegen die außer Rand und Band geratene Technik«, fuhr er gleichmütig fort. »Nun, das hat schon Huxley für Sie getan. Sie zielen darauf ab, menschliche Motive freizusetzen, die endlich einmal weder auf Konkurrenzdenken noch auf Aggression beruhen. Doch um das bewerkstelligen zu können, müssen Sie erst die Ausbeutung abschaffen. Fragt sich nur, wie.«
    Wieder hielt er inne, und seine Pausen wurden für sie bedrohlicher als das, was er sagte; es waren die Pausen auf dem Weg zum Schafott.
    »Hören Sie auf, so gönnerhaft zu mir zu sein, Marty. Bitte, hören Sie damit auf!«
    »Nun, wenn ich Sie recht interpretiere, Charlie«, fuhr Kurtz unbeirrt freundlich fort, »ist es genau das Thema Ausbeutung, bei dem wir vom verbalen Anarchismus, um ihn mal so zu nennen, in den praktizierten Anarchismus umkippen.« Er wandte sich an Litvak, spielte ihn gegen sie aus. »Sie wollten dazu was sagen, Mike?«
    »Ich wollte sagen, die Ausbeutung ist das Thema, um das sich alles dreht, Marty«, sagte Litvak leise. »Setzen Sie statt Ausbeutung Eigentum , und Sie haben es auf die kürzeste Formel gebracht. Zuerst gibt der Ausbeuter seinem Lohnsklaven eins mit seinem überlegenen Reichtum über den Schädel; dann unterzieht er ihn einer Gehirnwäsche, so dass er glaubt, Vermögensbildung sei ein gültiger Grund, ihn zu zerbrechen und zu zermahlen. Auf diese Weise hat er ihn doppelt geködert.«
    »Großartig«, sagte Marty vergnügt. »Die Vermögensbildung ist von Übel, folglich ist Vermögen, Eigentum an sich von Übel, folglich sind diejenigen von Übel, die das Eigentum schützen, folglich gilt es - da Sie zugegebenermaßen keine Geduld mit dem demokratischen Entwicklungsprozess haben - das Eigentum abzuschaffen und die Reichen umzubringen. Soweit einverstanden, Charlie?«
    »Machen Sie sich doch nicht lächerlich! Mit so was hab’ ich nichts zu tun.«
    Marty schien enttäuscht. »Soll das heißen, Sie lehnen es ab, den Ausbeuterstaat abzuschaffen, Charlie? Wieso denn das? Plötzlich kleinmütig geworden?« Und, wieder zu Litvak gewandt: »Ja, Mike?«
    »Der Staat ist ein Tyrann«, warf Litvak hilfreich ein. »Genau das hat Charlie gesagt. Außerdem hat sie auch noch von der Gewalttätigkeit des Staates, dem Terrorismus des Staates, der Diktatur des Staates gesprochen - schlechter kann ein Staat eigentlich nicht sein.« setzte Litvak noch mit einer Stimme hinzu, die irgendwie Verwunderung ausdrückte.
    »Aber das bedeutet doch noch lange nicht, dass ich rumlaufe, Leute umbringe und irgendwelche Scheißbanken ausraube! Himmel! Was soll das?«
    Kurtz ließ sich von ihrem Ausbruch nicht beeindrucken. »Charlie, Sie haben uns gegenüber deutlich gemacht, dass die Kräfte von Gesetz und Ordnung nichts weiter sind als die Handlanger einer falschen Autorität.« Litvak steuerte eine Fußnote bei. »Und dass es für die Massen bei den Gerichten keine Gerechtigkeit gibt«, gab er Kurtz zu bedenken.
    »Das stimmt doch auch! Das ganze System ist ein Fehlschlag! Es ist erstarrt, es ist korrupt, es

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