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Die Libelle

Die Libelle

Titel: Die Libelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John le Carré
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begünstigt die Besitzenden, es…«
    »Ja, warum es dann nicht zerstören?« fragte Kurtz durchaus wohlwollend. »Warum sprengen Sie es dann nicht in die Luft und erschießen Sie nicht jeden Polizisten, der versucht, Sie daran zu hindern, oder überhaupt jeden Polizisten, der es nicht tut? Warum jagen Sie nicht die Kolonialisten und die Imperialisten in die Luft, wo immer Sie sie finden? Wo bleibt denn plötzlich die Integrität, der Sie sich so rühmen? Was ist denn schiefgelaufen?« »Ich will überhaupt nichts in die Luft sprengen! Ich will Frieden! Ich möchte, dass die Menschen frei sind!« erklärte sie verbissen und zog sich Hals über Kopf auf das einzige zurück, was ihr Sicherheit bot.
    Doch Kurtz schien sie nicht zu hören. »Sie enttäuschen mich, Charlie«, sagte er. »Plötzlich mangelt es Ihnen an Folgerichtigkeit. Sie haben durchschaut, worauf es ankommt. Weshalb gehen Sie dann jetzt nicht hin und ändern etwas daran? Warum geben Sie sich eben noch als eine Intellektuelle, die Augen und Grips genug hat zu sehen, was von den irregeleiteten Massen nicht zu durchschauen ist, und gleich darauf haben Sie nicht den Mumm, hinzugehen und zum Wohle derer, deren Herzen und Gemüter von den kapitalistischen Machthabern versklavt sind, etwas zu unternehmen - ihnen einen kleinen Dienst zu erweisen, zum Beispiel durch Diebstahl , zum Beispiel durch Mord , zum Beispiel dadurch, dass Sie etwas in die Luft sprengen - sagen wir mal, ein Polizeirevier. Nun kommen Sie schon, Charlie, wo bleibt das Handeln? Sie sind die Freie hierunter uns. Jetzt lassen Sie uns nicht nur Worte hören, sondern Taten sehen.«
    Kurtz’ ansteckende Lustigkeit hatte sich zu neuen Höhen aufgeschwungen. Die Krähenfüße an seinen Augenwinkeln waren so tief, dass sie wie schwarze Furchen in seine mitgenommene Haut eingeschnitten waren. Aber Charlie konnte auch kämpfen, redete ihn jetzt ganz unmittelbar an, setzte ihre Worte genauso ein, wie er es tat, erschlug ihn damit und versuchte, sich mit Gewalt an ihm vorbei einen letzten Ausweg in die Freiheit zu bahnen.
    »Hören Sie, ich bin oberflächlich, kapiert, Marty? Ich bin nicht belesen, bin ungebildet und kann nicht zusammenzählen, logisch argumentieren oder analysieren. Ich habe eine zweitklassige teure Schule besucht, und ich wünsche zu Gott -und zwar mehr als alles andere auf der Welt -, ich wäre irgendwo in einem Provinznest in einer Seitenstraße zur Welt gekommen, und mein Vater hätte sich sein Geld mit seiner Hände Arbeit verdient, statt alte Damen um ihre lebenslangen Ersparnisse zu bringen! Ich habe es bis obenhin satt, einer Gehirnwäsche unterzogen zu werden, und es kotzt mich an, mir Tag für Tag fünfzehntausend Gründe anhören zu müssen, warum ich meinen Nächsten nicht von gleich zu gleich lieben soll, und ich möchte ins Bett, verdammt noch mal!«
    »Wollen Sie mir etwa sagen, Sie widerriefen diese Einstellung, die Sie uns dargelegt haben, Charlie?«
    »Ich habe keine Einstellung, die ich Ihnen dargelegt hätte.«
    »Sie haben keine?«
    »Nein!« »Keine feste Einstellung, keine Verpflichtung zu handeln, bis auf die, dass Sie sich an niemand gebunden fühlen.«
    »Ja.«
    » Friedlich an niemand gebunden«, fügte Kurtz noch zufrieden hinzu. »Sie gehören also der extremen Mitte an.« Er knöpfte die linke obere Brusttasche auf, fummelte mit den dicken Fingern darin herum und holte unter einem ganzen Haufen Krimskrams einen zusammengefalteten Zeitungsausschnitt hervor, einen ziemlich langen, der- da er ihn so gesondert aufbewahrt hatte - sich auf irgendeine Weise von denen unterscheiden musste, die in dem Aktenordner abgeheftet waren.
    »Charlie, vorhin haben Sie flüchtig erwähnt, Sie und Al hätten irgendwo unten in Dorset an einem Wochenendseminar teilgenommen«, sagte Kurtz und faltete den Zeitungsausschnitt umständlich auseinander. »›Ein Wochenendseminar über radikales Denken‹ , so haben Sie es bezeichnet, glaube ich. Wir haben uns nicht eingehend damit beschäftigt, was dabei herausgekommen ist; wenn ich mich recht erinnere, sind wir über diesen Teil unserer Unterhaltung einfach hinweggegangen. Haben Sie was dagegen, wenn wir da noch etwas tiefer bohren?«
    Wie jemand, der sein Gedächtnis auffrischt, las Kurtz schweigend den Zeitungsausschnitt durch und schüttelte dabei gelegentlich den Kopf, als wollte er sagen: »Na, so was.«
    »Scheint gar nicht so ohne zu sein«, meinte er jovial, während er weiter las. »Ausbildung an Gewehrattrappen.

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