Die Libelle
Ordner zu und ließ ihn in die Aktenmappe gleiten. »›Ein paarmal. Das war alles. Dann bekam ich
kalte Füße‹ «, intonierte er nachdenklich. »Wollen Sie diese Aussage in irgendeiner Weise revidieren?«
»Warum sollte ich?«
»›Ein paarmal.‹ Richtig?«
»Warum denn nicht?«
»Ein paarmal - das heißt: zweimal, stimmt’s?«
Das Licht über ihr verschwamm - oder schwamm ihr Kopf? Mit Bedacht drehte sie sich auf dem Stuhl um. Joseph saß über seinen Tisch gebeugt, viel zu beschäftigt, um auch nur aufzublicken. Sie wandte sich wieder ab und stellte fest, dass Kurtz immer noch wartete.
»Zwei- oder dreimal«, sagte sie. »Was soll das denn?«
»Und viermal? Kann ›ein paarmal‹ auch viermal bedeuten?«
»Ach, hören Sie doch auf!«
»Ich nehme an, das ist eine Sache der Linguistik. ›Ich habe meine Tante voriges Jahr ein paarmal besuchte Das könnte auch viermal bedeuten. Fünfmal wäre wohl das Äußerste. Bei fünfmal redet man schon von einem halben dutzendmal.« Langsam blätterte er in seinen Unterlagen. »Wollen Sie dieses ›ein paarmal‹ revidieren und ›ein halbes dutzendmal« draus machen, Charlie?«
»Ich habe ›ein paar Mal‹ gesagt und meine ›ein paar Mal‹.«
»Zweimal?«
»Ja, zweimal.« »Also zweimal. Jawohl, ich habe nur zweimal an so einem Wochenend-Seminar teilgenommen. Andere mögen an der kriegerischen Ausbildung teilgenommen haben, meine Interessen lagen auf sexuellem und gesellschaftlichem Gebiet. Mir ging es um die Erholung. Amen.‹ Gezeichnet: Charlie. Könnten Sie noch den genauen Zeitpunkt für die beiden Male angeben?«
Sie nannte ein Datum im vorigen Jahr, kurz nachdem Al und sie sich zusammengetan hatten. »Und das andere Mal?« »Das habe ich vergessen. Was spielt es für eine Rolle?«
»Sie hat es vergessen.« Er sprach so langsam, dass seine Stimme fast zum Stillstand kam, ohne indes etwas von ihrer Macht einzubüßen. Ihr war, als schliche sie wie ein plumpes Tier auf sie zu. »Ist es zum zweiten Mal bald nach dem ersten Mal gekommen, oder lag ein langer Zeitraum dazwischen?«
»Ich weiß es nicht mehr!«
»Sie weiß es nicht. Das erste Wochenende war ein Einführungsseminar für Anfänger, stimmt’s?«
»Ja.«
»In was wurden Sie denn eingeführt?«
»Hab’ ich Ihnen doch schon gesagt - in Gruppensex.«
»Keine Diskussionen, keine Seminare, keine Unterweisungen?« »Es hat Diskussionen gegeben, doch.« »Über welche Themen, bitte?« »Über Grundprinzipien.« »Von was?«
»Radikalismus - was denken Sie denn?« »Wissen Sie noch, wer zu Ihnen gesprochen hat?«
»Eine Lesbe mit fleckigem Gesicht über Women’s Lib . Ein Schotte über Kuba, jemand, den Al bewunderte.« »Und bei der anderen Gelegenheit - von der Sie nicht mehr wissen, wann es war, bei der zweiten und letzten Gelegenheit -, wer hat da Vorträge gehalten?«
Keine Antwort. - »Auch vergessen?«
»Ja!«
»Das ist ungewöhnlich, nicht wahr, dass Sie sich an das erstemal genau erinnern - den Sex, die Diskussionsthemen, die Seminarleiter. Und beim zweitenmal an überhaupt nichts?«
»Nachdem ich die ganze Nacht auf war und Ihnen Ihre verrückten Fragen beantwortet habe - nein, überhaupt nicht ungewöhnlich.«
»Wohin wollen Sie?« fragte Kurtz. »Möchten Sie ins Badezimmer? Rachel, bring Charlie ins Badezimmer! Rose!« Sie war aufgestanden. Aus den Schatten hörte sie weiche Füße auf sich zukommen.
»Ich haue ab. Nehme meine Optionen wahr. Ich will raus hier! Und zwar jetzt.«
»Ihre Optionen können Sie nur in ganz bestimmten Phasen wahrnehmen, und zwar dann, wenn Sie von uns dazu aufgefordert werden. Wenn Sie schon vergessen haben, wer beim zweiten Seminar, an dem Sie teilgenommen haben, die Diskussion geleitet hat, sagen Sie mir wenigstens, um was es dabei ging.«
Sie stand immer noch, und irgendwie machte sie das kleiner. Sie blickte sich um und sah Joseph, der sich - das Kinn auf gestützt - aus dem Lampenlicht herausgedreht hatte. Für ihre angsterfüllten Augen schien er in einer Art Mittelbereich zu schweben, Kurtz’ Stimme füllte weiterhin ihren Kopf und brachte die Menschen darin zum Schweigen. Sie stützte sich mit den Händen auf den Tisch, sie beugte sich vor; sie befand sich in einer merkwürdigen Kirche, ohne Freunde, um sie zu beraten, wusste nicht, ob sie stehen oder knien sollte. Doch Kurtz’ Stimme war überall, und es hätte keine Rolle gespielt, ob sie sich auf den Boden gelegt oder durch das Butzenglasfenster entschwebt oder hundert Meilen
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