Die lichten Reiche: Band 1: Harfe und Schwert (German Edition)
Ablehnung oder Angst reagierten. Doch für ihn war es so natürlich wie atmen, so selbstverständlich wie die Tatsache, dass jeden Morgen im Osten die Sonne aufgeht, dass er sie sehen konnte. Er hatte sie aufwachsen sehen. Als er noch ein Kind war, war auch sie ein Kind gewesen und als junger Lehrling an der Akademie war sie ihm als junges Mädchen mit spitzem Gesicht erschienen. Jetzt war sie zu der schönsten Frau herangewachsen, die er je gesehen hatte – oder eben nicht gesehen hatte, denn in Wirklichkeit hatte er das nicht. Mit einer Geste der Verzweiflung fuhr sich Lucthen durchs dunkle Haar. Er kannte nicht einmal ihren Namen. Um ehrlich zu sein, er war sich nicht einmal sicher, ob sie ein Mensch war…
Es war mitten in der Nacht als Lucthen das Tor durchschritt, das in den ersten Ring führte. Zielstrebig ging er auf die kleine Hütte zu, die seit seiner Geburt sein Zuhause gewesen war. Nach Stunden des Nachdenkens war Lucthen zu einem Schluss gekommen: es gab nur eine Person, die ihm vielleicht weiterhelfen konnte. Als er die Tür hinter sich ins Schloss zog, merkte er verwundert, dass in der Wohnstube noch Licht brannte. Er fand seinen Vater in dessen Lieblingssessel vor dem Kamin vor, eine warme Decke um die Beine gewickelt. Einst war Lucthens Vater ein Talosreiter gewesen, doch mittlerweile war er zu alt um seinem König zu dienen. In den letzten Jahren hatte ihn zusehends seine Kraft verlassen; sein Haar war ergraut und beim Gehen musste er sich auf einen Stock stützen. „Warum bist du noch wach, Vater?“, erkundigte sich Lucthen neugierig, als er zu ihm trat und ihm grüßend die Hand auf die Schulter legte.
„ Ich habe mir Sorgen gemacht, weil du nicht heim gekommen bist“, erklärte der alte Mann mürrisch.
Lucthen unterdrückte ein Grinsen. Er war achtundzwanzig Jahre alt, ausgebildeter Magus und sein Vater sorgte sich, weil er sich ein paar Stunden verspätete… „Ich bin jedenfalls froh, dass du noch wach bist. Ich möchte mit dir reden“, meinte er, als er sich in den Sessel, der neben dem seines Vaters stand, fallen ließ.
„ Ist es wichtig?“, erkundigte sich der alte Mann. „Ich meine, können wir nicht morgen Früh…“
„ Es ist sehr wichtig und ich habe ohnehin schon zu lange gewartet.“
Lucthens barscher Tonfall ließ seinen Vater aufhorchen. „Was hat dich so aufgebracht, mein Sohn?“
Lucthen starrte in die Flammen. Er wusste nicht genau wie er beginnen sollte. So viel stand auf dem Spiel, denn wenn sein Vater ihm nicht weiterhelfen konnte, musste er seine Hoffnung, sie je zu finden, begraben. „Erinnerst du dich, dass ich früher manchmal von einem Mädchen geträumt habe?“, begann er. Seine Augen ruhten aufmerksam auf dem Gesicht seines Vaters und so entging ihm nicht, dass dieser sich anspannte, obwohl er sich bemühte möglichst unbeteiligt zu wirken.
„ Das ist schon Jahre her.“
Langsam schüttelte Lucthen den Kopf. „Nein, ich habe nur aufgehört von ihr zu erzählen, weil niemand mir geglaubt hat.“
Eine tiefe Stille senkte sich über das Zimmer. Interessiert beobachtete Lucthen die Reaktion seines Vaters. Konnte er tatsächlich Schuldgefühle in dessen Miene lesen?
„ Warum erzählst du mir das, Lucthen?“, fragte der alte Mann schließlich.
„ Weil ich sie heute gesehen habe. Sie ist in Gefahr. Vater, wenn du irgendetwas weißt, dann musst du mir das sagen. Wenn ihr etwas zustößt…“, brach es aus Lucthen heraus.
„ Aber wie kommst du darauf, dass ich irgendetwas…“
„ Weil ich nachgedacht habe. Ich kenne dich, Vater – deine Reaktionen, immer wenn ich von ihr erzählt habe, waren … eigenartig.“
Der alte Mann starrte in die Flammen, als hätte er die Anwesenheit seines Sohnes vergessen und lange Zeit war nur das Knacken der Holzscheite und sein schweres Atmen zu hören. „Ich wollte es dir sagen, beim Licht, das wollte ich“, murmelte er irgendwann leise, wie zu sich selbst, „..aber ich habe einen Eid geschworen.“
Lucthen konnte sehen wie sein Vater mit sich rang. Es kostete ihm seine ganze Beherrschung ruhig zu bleiben und ihn nicht zu bedrängen. Schließlich schüttelte der alte Mann langsam den Kopf. „Lass uns ein anderes Mal darüber reden, mein Sohn.“
„ Heute noch. Ich muss es wissen.“ Lucthens Stimme war fest und entschlossen.
Der alte Talosreiter schaute seinen Sohn traurig an. Er schien zu begreifen, dass die Zeit der Ausflüchte nun vorüber war. „Du warst noch sehr jung, vielleicht drei oder
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