Die Lichtermagd
gehörte, so dass ihr rundliches Gesicht noch voller wirkte. Sie rückte gerade den Riemen zurecht, der zwischen ihren Brüsten verlief. Daran hing ein Beutel, in dem sie Kerbel, Liebstöckel und einige Salbeispitzen gesammelt hatte. »Wenn den Jungen jemand erwischt, wie er von der Tafel klaut, dann bekommt er Schläge. Die Meisterin hat harte Regeln aufgestellt.«
»Aber ich will doch Fisch. Bitte.«
Luzinde wurde wieder ernst. Die Meisterin war gut zu ihr. Und das Letzte, was sie wollte, war, dassThomas Ärger bekam. »Nein, deine Mutter hat Recht. Lass besser die Finger von der Tafel der Herrschaft.«
»Och«, schmollte der Kleine.
»Alles wieder gut?«, fragte Anna wie stets, wenn Thomas traurig war, und zauberte eine Stange Süßholz aus ihrer Schürze hervor. Da lächelte der Kleine, schob sich das Ende in den
Mund und nickte kauend. Schließlich hob er einen Kiesel auf und begann, ihn vom Dreck zu befreien und damit zu spielen. Wie einfach das Leben der Kinder doch war! Luzinde sah ihm mit einem Hauch von Wehmut beim Spielen zu. Er würde noch früh genug erwachsen werden müssen.
»Sei bloß vorsichtig mit dem, was du ihm in den Kopf setzt, Luzinde. Ich will nicht, dass er zu viel von dir lernt. Du weißt genau, wie weit du mit deinen Schnurren gehen kannst – zumindest hoffe ich das. Wenn Thomas glaubt, er könne sich bedienen, wie er will, dann wird er Ärger bekommen. Manche haben für einen Diebstahl schon Hand oder Zunge verloren.«
Der Korb im Wasser wackelte unter dem Zappeln der Fische – Luzinde hatte ganz vergessen, den Deckel festzubinden. Also watete sie zurück ins Wasser. »Hat die Meisterin nicht auch die Waltraud zu sich genommen?«, fragte sie über die Schulter. »Ich dachte, die hätte ihren Herren bestohlen und sei daraufhin verjagt worden.«
»Sicher vergibt die Meisterin einer Diebin, wenn sie Reue zeigt und auf die Bibel schwört, dass sie nicht mehr stehlen wird. Aber die Meisterin ist sehr streng mit Waltraud und hält ein Auge auf sie. Da kennt sie keine Gnade.Waltraud weiß das. Und daher ist sie die Treuste von uns allen.«
Luzinde verstummte, während sie das Band des Korbdeckels sorgfältig am Griff verknotete.Wie so oft fragte sie sich, ob sie der Meisterin Elisabeth in jener Nacht vor fünf Jahren wohl die Wahrheit hätte sagen können. Seit man sie damals fiebernd und halbtot auf den abgelegenen Beginenhof gebracht hatte, lebte sie mit dieser Lüge. Nicht einmal in der Beichte hatte sie bekannt, was sie damals auf die Straße getrieben hatte.
Inzwischen hatte Luzinde so lange geschwiegen, dass sie niemandem mehr von der Wahrheit berichten konnte. Sie hatte hier in Pillenreuth, abseits des Trubels der Welt, einen Ort gefunden,
der ihr Sicherheit bot. Wenn sie mit der lieben Anna nun über ihre Vergangenheit sprach – würde die sie verstehen, ihr vergeben? Oder würde sie zu Meisterin Elisabeth laufen und ihr alles erzählen? Nein, bei dem Gedanken zog sich vor Furcht ihr Magen zusammen. Sie konnte nicht wagen, sich der Freundin anzuvertrauen.
»Wir sollten aufbrechen«, drängte Anna nun mit einem Blick zum Himmel, um den Stand der Sonne abzuschätzen, und zog ihrem Sohn den halbtrockenen Kittel wieder über. »Sonst kommen wir zu spät zur Andacht.«
»Nicht nötig«, erwiderte Luzinde und genoss die Sonne auf dem Gesicht. »Ich habe Schwester Kunigunde gesagt, wir hätten auch die Reusen auf der anderen Seite noch abzugehen und bräuchten den ganzen Nachmittag.«
Annas Augenbrauen fuhren hoch. »Aber die Reusen haben wir doch das letzte Mal eingesammelt und im Schuppen verstaut, weil man durch das Unterholz kaum zum Ufer kommt. Wieso …« Luzindes Gesichtsausdruck brachte sie zum Verstummen.
Die jüngere Magd zog die Schultern in gespielter Unschuld hoch und ließ sie wieder fallen. »Schau doch nicht so böse, Anna. Ich dachte, wir könnten uns einen schönen Nachmittag am See machen.« Sie wies um sich herum und hob erst das eine, danach das andere nackte Bein aus dem Wasser, als würde sie einen grotesken Tanz aufführen. »Die Sonne scheint so herrlich! Und bald geht die Obsternte los, die Felder werden geschnitten und die Tage kühler.Vielleicht ist heute unsere letzte Gelegenheit, den Sommer so richtig zu genießen!«
Anna sah sie an, als hätte sie den Vorschlag gemacht, der Bibel abzuschwören. »Luzinde, du hast gelogen! Wie kommst du nur immer auf solche Gedanken? Wir sind doch keine hohen Herrschaften, die sich einen Tag freinehmen können,
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