Die Liebe atmen lassen
erinnert schmerzlicher an den Tod alsdie Liebe. Nie wollen die Liebenden voneinander scheiden: »Du und ich – für immer!« Aber zu gegebener Zeit dann doch nicht für immer.
Auffällig ist die Widersprüchlichkeit des Phänomens . Die inneren Gegensätze der Liebe legen den Schluss nahe, dass sie nur polar zu verstehen ist. Liebe ist Sanftmut? Aber oft zeigt sie ein kämpferisches Gesicht. Liebe ist ein Kampf ? Aber ihre größte Stärke ist der Verzicht auf das Gebaren der Stärke. Liebe ist Harmonie? Aber der Gleichklang der Seelen wird immer wieder zerrissen vom Missklang. Liebe ist ein unendliches Gefühl? Aber eine nicht sehr gefühlvolle Endlichkeit setzt ihr wieder Grenzen. Selbst die tautologische Definition, ebenso tiefgründig wie nichtssagend, »die Liebe ist eben die Liebe«, hilft hier nicht weiter, denn die Liebe birgt in sich zuweilen auch Hass, nicht etwa nur auf den, der ihr im Weg steht, sondern auch auf den, der eigentlich geliebt wird. Auf seine Vergötterung folgt die Verteufelung, auf blindes Vertrauen die große Verbitterung. Die stärkste Erfahrung im Leben kann die Liebe sein, ebenso verzückend wie verheerend. Immer ist sie noch etwas Anderes, Gegensätzliches: Liebe ohne Ende. Nicht selten mit einem so lieblosen Ende, wie die Liebenden zuvor liebestoll in ihr schwelgten, dann aber wieder von vorne, herrlich, gnadenlos, endlos.
Immer aufs Neue wird die Liebe von der Bereitschaft der Liebenden befeuert, alle denkbaren und undenkbaren Möglichkeiten zu erkunden und zu erproben; daraus resultiert die exotische Vielfältigkeit des Phänomens . Keine Phantasie reicht aus, sich die Möglichkeiten, erst recht die Unmöglichkeiten der Liebe, die dennoch wirklich werden, auch nur auszudenken. Liebe kann alles, sie ist totipotent , »zu allem fähig«, wenn auch nicht in jedem Fall, und sie birgt in sich das Potenzial,jede Kluft zwischen Menschen zu überbrücken: Kluft der Herkunft und des Alters, des Wissens und der Bildung, der sozialen Unterschiede und Hierarchien, der Gefühle und des Einkommens. Die Liebe besiegt alles, Amor omnia vincit , wie Vergil im 1. Jahrhundert v. Chr. sagte ( Bucolica , X, 69) und Caravaggio 1601/02 ein Gemälde betitelte. Mühelos überspringt sie Abgründe, auch zum Gefühl des Hasses, den sie herausfordert und wieder aufhebt. Rankendem Efeu gleich wächst sie über Mauern hinweg, heilt Wunden und versöhnt Unversöhnliches. Wie die Natur besetzt sie jeden möglichen Ort mit Leben und lässt keine Gelegenheit aus: Zwei, die absolut nicht zusammenpassen? Sie werden sich finden. Es ist unmöglich, so zusammen zu leben? Es wird geschehen. Niemand kann so treu oder treulos sein? Es wird Wirklichkeit werden, und gerade der, der am heftigsten darüber den Kopf schüttelt, ist für die nächste Überraschung gut: Liebe ohne Ende auch in diesem Sinne.
In all ihren Formen scheinen ihr Maß und Maßeinheiten fremd zu sein. Das zeugt von der Unermesslichkeit des Phänomens , die hinreißend ist und doch äußerst gefährlich werden kann: Was mit Liebe und in ihrem Namen geschieht, kennt keine Grenzen. Unermesslich können Liebende sich wohltun – und wehtun. Die immer neue Versuchung, sich der Liebe übermäßig hinzugeben, trifft auf den Widerstand des alltäglich gelebten Lebens, das jedes Übermaß wieder zerstreut. Der Versuch, sie maßvoll zu leben, trifft auf den Widerstand der Liebe selbst, die kläglich zu versiegen droht, wenn sie ihre überschüssigen Energien verliert. Unermesslichkeit beansprucht sie auch noch in anderer Hinsicht: Alle Versuche, ihr mit Messungen etwa der neuronalen Vorgänge beizukommen, erbringen eine Anhäufung des Wissens übereinzelne Aspekte, nie eine Wissenschaft der Liebe im Ganzen. Messbar ist das einschlägige Fühlen und Denken, das Reagieren auf Reize, die momentane Erregung, aber keine noch so große Fülle der Daten wird das Ganze des Phänomens je erklären. Die Arbeit an der Enthüllung der Geheimnisse erzeugt äußerstenfalls Ernüchterung, die immer eine mögliche Folge des Wissens ist. Und auch dies, dass keine objektive Messung die subjektive Wahrnehmung einholen kann, zeugt von einer Liebe ohne Ende.
Dabei vermögen Liebende über jede Entfernung im Raum hinweg ihre Nähe zu bewahren, und inexistent wird für sie die Zeit, jedenfalls zeitweilig, eine mystisch anmutende Erfahrung, die für die Unendlichkeit des Phänomens spricht. Unendlich sind auch die möglichen Metamorphosen zwischen körperlicher, seelischer, geistiger
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