Die Liebe atmen lassen
Abälard, deren Beziehung zum Inbegriff der Liebe auf körperlicher, seelischer, geistiger und transzendenter Ebene wird. Die Macht der Sinnlichkeit, die sich anfänglich in ihnen Bahn bricht, lässt sich der Gegenmacht christlicher Normen nur noch mit Gewalt unterwerfen, nämlich mit der Entmannung Abälards, die der innigen Beziehung gleichwohl nichts anhaben kann. Viele Briefe aus dem Kloster adressiert Héloïse weiterhin an ihren Geliebten, der seinerseits die gemeinsame Liebe zur Transzendenz beschwört. Inspiriert von der multiplen Liebe, unter neuerlicher, nun aber melancholischer Berufung auf die»Herrschaft« des Eros, dessen sinnliche Seite ihn irritiert, besingt Petrarca im 14. Jahrhundert im Gedichtzyklus Canzoniere seine Beziehung zur geliebten Laura, schillernd auf allen Ebenen, und die nie geklärte Frage, ob es sich dabei um eine reale Gestalt handelt, hält die Wirkungsgeschichte wach und führt zu einer regelrechten »Wiedergeburt der Liebe« (Ingeborg Walter und Roberto Zapperi, Das Bildnis der Geliebten , 2007).
Die Maler der Zeit stellen Frauen mit üppiger Sinnlichkeit, inniger Beseeltheit, geistvollem Ausdruck dar, entrückt in die Transzendenz des antiken Götterhimmels, wie etwa die 1538 gemalte Venus von Urbino (Florenz, Uffizien) des Venezianers Tizian. Die realen Frauen der Renaissance beanspruchen Gleichberechtigung zumindest im Liebesleben, nach der bereits bekannten Grundformel von ehelicher Pflichterfüllung und außerehelichem Lustgewinn. Zugleich ist dies die Zeit einer offen gelebten Bisexualität, sowie einer jedes Maß sprengenden Prostitution. Die große Freiheit in Liebesdingen spricht aus den Werken von Pietro Aretino, François Villon, François Rabelais. Dass selbst das Personal der christlichen Kirche den Versuchungen der Zeit nicht widerstehen kann, bereitet den Boden für Luthers Rückbesinnung auf das wahre christliche Leben, zu dem in seinen Augen die Ehe gehört: Sie ist der einzig richtige Ort der Sexualität, ja, Mann und Frau haben geradezu einen »ehlichen Dienst« aneinander zu verrichten, nicht unwillig, sondern freudig, »sintemal Gott Mann und Weib, sich zu besamen und zu mehren, geschaffen hat« ( Vom ehelichen Leben , 1522).
5. In der frühen Neuzeit nötigt das erfolgreiche Zurückschneiden der bunten Triebe die Liebe zur neuerlichen Vergeistigung, die nun aber ganz anders ausfällt als einst bei Platon. Im 17./18. Jahrhundert und bis weit in die Moderne hinein hatdie Wertschätzung der geistigen Ebene keine überhimmlische Schönheit, sondern die weltliche Nützlichkeit der Beziehung zwischen zweien im Blick: Die Liebe als Geschäft . Zum nüchternen Kalkül gehören materielle Versorgung und soziale Absicherung, ökonomischer Erfolg und gesellschaftlicher Aufstieg, zu deren Zweck eine formale Liebe arrangiert und in die Form eines Ehebündnisses gegossen wird. Ihr körperlicher Vollzug befriedigt die Bedürfnisse des Mannes und sichert idealerweise die männliche Erbfolge, Gefühlsregungen oder ein anspruchsvoller geistiger Austausch sind dafür nicht von Belang; der Rest ist Melancholie, wie Robert Burton sie im dritten Buch seiner Anatomie der Melancholie (1621) beschreibt. Diese Liebe, die keiner Person gilt, sondern günstigen Bedingungen für die Mehrung materieller Güter, ist maßgeblich an der »innerweltlichen Askese« und »rastlosen Berufsarbeit« beteiligt, die Max Weber als Triebkräfte der Kapitalakkumulation identifizierte ( Die protestantische Ethik und der »Geist« des Kapitalismus , 1904/05). Mit der Festlegung dieser Liebe auf eine den Konventionen entsprechende bürgerliche Ehe, die den religiösen Segen erhält und außereheliche Verhältnisse moralisch ächtet, brechen zugleich die Blütezeiten der Doppelmoral an. Vorweg in der Aristokratie, sodann im Bürgertum macht sich außerhalb der ehelichen Verbindung eine erotische Freizügigkeit breit, von der zahllose zeichnerische und literarische Darstellungen künden. Die blühende Phantasie und zügellose Libertinage gipfeln in den unkonventionellen Praktiken eines Marquis de Sade und überdauern in verborgener Gestalt mühelos auch Biedermeierzeit und Viktorianisches Zeitalter im 19. Jahrhundert.
6. In der Frühromantik beziehen junge Menschen aus dem Erschrecken über die gefühllos gewordene Liebe den Antrieb,mit ausdrücklichem Rückbezug auf das Mittelalter, aber mit dem modernen Anspruch auf Liebe in der Ehe, vor allem die seelisch-geistige Ebene zu erneuern. In frontaler
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