Die Liebe atmen lassen
ließen sich, um die Liebe wieder zu finden, die Gefühle mit Gedanken bewegen: Statt mit den verebbenden Energien der Liebe auch den Sinn des Lebens entschwinden zu sehen, könnten die ehemals Liebenden versuchen, mit neuen Deutungen neuen Sinn zu finden und neue Energien freizusetzen.
Gängige Deutungen der Liebe sind die starken Gefühle füreinander, das dauerhafte Einssein, das wechselseitige Verständnis, die Treue, das gemeinsame Wachsen, die beiderseitige Bereitschaft, Schwierigkeiten durchzustehen, ohne die Beziehung in Frage zu stellen, auch die Gewissheit, sich in allen Lebenslagen aufeinander verlassen zu können. Aber auch andere Deutungen sind möglich und können veränderte Erfahrungen mit anderen Intensitäten anstoßen: Dass zur Liebe Gewohnheit gehören kann, sogar der zumindest zeitweilige Verzicht auf Sentimentalität, vielleicht auch auf Sexualität, ein geringeres Augenmerk auf Treue, eine größere Selbstständigkeit des Einzelnen, weniger Scheu vor Konflikten, mehr Bereitschaft zu Kompromissen. Erst dann, wenn die Liebe, ihre Energie und ihr Sinn endgültig entbehrt werden müssen, beginnt das Spiel wieder von vorn, nämlich mit der Sehnsucht nach Liebe. Jede Deutung der Liebe aber macht deutlich, dass sie sich noch hundertfach anders deuten ließe. Selbst wissenschaftliche Erklärungen der Liebe erscheinen nur als Momente in diesem unablässigen Strom der Deutungen. Auch ihr Verständnis als gefühlsbestimmter, energiegeladener Zustand und gedanklich bestimmte, deutende Bewegung ist nur eine mögliche Deutung. Jede Deutung hat dabei selten vereinzelte Erfahrungen, meist das Phänomen im Ganzen im Blick. Und doch durchmessen erst die vielen möglichen Deutungen dieGesamtheit der Liebe, bestätigen ihre Unermesslichkeit und lassen ihre Energien erahnen.
Der Kern jeder Deutung ist eine implizite Idee von Liebe , ein zunächst nur vages Verständnis, und die Art, in der jeweils vom Wort »Liebe« Gebrauch gemacht wird, lässt auf die Idee schließen. Soll die Idee klarer hervortreten, muss sie in einem Begriff von Liebe explizit gemacht werden, und das ist nicht etwa nur eine Angelegenheit von Begriffsexperten, sondern der beteiligten Individuen selbst: Im Bemühen um den Begriff verhandeln sie ihre Deutungen und bestimmen sie genauer. Viele Erfahrungen, die sie gemacht haben und auf die sie sich besinnen, all das, was ihnen wichtig erscheint, sämtliche Sehnsüchte und Befürchtungen, die sie in sich verspüren, Phantasien und Vorstellungen, die sie hegen, auch Ideale und Idole, denen sie anhängen, finden Eingang in den Begriff ( Prozess der Induktion ). Auf eine lange Aufzählung, die die Kommunikation lähmen würde, verzichten sie fortan, das Kürzel »Liebe« sagt nun alles aus, was in die Begriffsbildung Eingang gefunden hat. Dann allerdings kehrt der Prozess sich um und die Individuen suchen aufgrund ihres Begriffs nach Erfahrungen, die dem entsprechen, was sie unter »Liebe« verstehen ( Prozess der Deduktion ). Einerseits münden also Erfahrungen, Empfindungen und Vorstellungen in den Begriff, andererseits führt der Begriff zu Erfahrungen, Empfindungen und Vorstellungen.
Mag sein, dass über die Liebe schon alles gesagt ist, dass sie aber jemals definitiv begriffen worden wäre, lässt sich nicht behaupten. Von einem allgemein verbindlichen Begriff kann keine Rede sein. Zur Kunst des Liebens gehört vielmehr, die je eigene Idee von Liebe immer wieder neu zu überdenken und eine Begriffsklärung vorzunehmen: Welche Rolle kommtin meinen Augen der Körperlichkeit zu? Sollen Gefühle bestimmend sein, und welche? Oder eher Gedanken, gar ein Kalkül? Soll Liebe heißen, sich einander vollkommen hinzugeben oder nur so lange zusammenzubleiben, wie es im Hinblick auf einen selbst gesetzten Zweck »etwas bringt«? Wenn der Begriff der Liebe in Frage steht, weil er den Erfahrungen, Bedürfnissen und Vorstellungen nicht mehr entspricht, wäre eine neuerliche Begriffsprägung vorzunehmen, die andere Erfahrungen, Bedürfnisse und Vorstellungen ermöglicht. Klärung und Prägung sind Gegenstand der Besinnung, des Gesprächs des Einzelnen mit sich, erst recht mit Anderen, auch wenn es nicht darum gehen kann, unterschiedliche Begriffe zur Deckung zu bringen. Die individuellen Ideen und Begriffe sind zudem mit kulturellen vermengt, deren Wandlungen parallel zur Geschichte der Erfahrungen eine Ideen- und Begriffsgeschichte der Liebe hervorbringen (Helmut Kuhn, »Liebe« , 1975), in die alle Deutungen
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