Die Liebe atmen lassen
das Spiel der Fragmentierung von Körper, Seele, Geist und Transzendenz irgendwann von Neuem beginnt. Allerdings wird eine erneuerte Kunst des Liebens mit alten Konstanten des Phänomens konfrontiert sein, die sich durch die gesamte Geschichte der Liebe ziehen: Vorweg mit der schieren Uferlosigkeit des Phänomens , die auch nach dem Ende der Liebe (Sven Hillenkamp, 2009) auf eine Liebe ohne Ende verweist. Von der Geburt bis zum Tod umhüllt sie, fehlt sie, fesselt sie jede und jeden in jeder Hinsicht. Die »schönste Nebensache der Welt« ist in Wahrheit die Hauptsache. Wo es vordergründig um Anderes geht, blitzt hintergründig stets »das Eine« auf, selbst in scheinbar liebesfernen Disziplinen wie Politik und Ökonomie, auch unter Bedingungen des Krieges und inmitten des Elends. Alle Menschen sind mit Liebe befasst, nichtimmer im Modus des Erlebens, oft in dem des Traums oder der Erinnerung. Häufiger als die Erfüllung ist die Entbehrung erfahrbar, und dennoch bleibt die Liebe das beherrschende Thema menschlicher Verhältnisse: Nichts ist faszinierender, gerade weil kaum etwas enttäuschender ausfallen kann. Ereignet sie sich, scheint das Leben sinnerfüllt zu sein, bleibt sie aus, erscheint es sinnlos und leer. Ob sie sich ereignet oder ausbleibt, lässt sich beeinflussen, aber nicht beliebig steuern. Warum spielen Menschen dieses Spiel? Offenkundig, weil ihnen noch kein spannenderes eingefallen ist.
Angemessen, mit Blick auf die Uferlosigkeit der Liebe, erscheint eine Haltung, die eher vom Verlust jeglicher Haltung kündet: Fassungslosigkeit angesichts des Phänomens . Es ist unvorhersehbar, wann, wo, wie und bei wem die Liebe auftaucht und wieder verschwindet. Es ist absonderlich, wie umfassend ihre Präsenz ist, was ihr Einfluss bewirkt, welche Macht ihr innewohnt, die sie gegen alle anderen Formen von Macht ins Spiel zu bringen vermag, und wie sehr sie auch selbst von Machtbeziehungen durchdrungen ist. Enorm ist ihre spezifische Macht der Wiederholung, die repetitive Potenz der Liebe, nicht nur was ihre Freuden, sondern auch ihre Leiden angeht – da capo scheint ihr Prinzip zu sein: Immer noch einmal und immer wieder, Liebe ohne Ende auch aus diesem Grund. Zauberhaft sind die Wandlungen, die mit Menschen geschehen, die verliebt sind, schauderhaft die Wandlungen, wenn sie sich entlieben: Jeder Perspektivwechsel, jede Meinungsänderung, jede Untreue, jeder Verrat, jede Tat und Untat kommen dabei in Betracht. Menschen werden über sich hinaus getrieben, bis sie sich selbst nicht mehr kennen. Alles verändert die Liebe, ihre Entbehrung ebenso. Unmögliches geschieht am ehesten, und man könnte versucht sein, mit Shakespeare ( EinSommernachtstraum , Akt 3, Szene 2) auszurufen: »Lord, what fools these mortals be!« – würde man nicht selbst zu diesen Verrückten gehören. Welcher Platz soll angesichts dessen den »Dingen der Liebe« eingeräumt werden? Lohnt sich die immer neue Auseinandersetzung um der Liebe willen? Kann man sich gegen Liebe auch wehren?
Der Fassungslosigkeit des Subjekts entspricht die des Objekts, der Liebe selbst: Eigenartig ist die gänzliche Unfassbarkeit des Phänomens , wie bei der Seele, wie bei Gott. Sich damit zu befassen, vermittelt das Gefühl, im Nebel zu stochern. Man tut gut daran, sich tastend vorwärts zu bewegen und geht vielleicht doch nur im Kreis; schon aus diesem Grund scheint das Thema auch so endlos zu sein. Die Existenz der Liebe anzuzweifeln, ist unmöglich, sie zweifelsfrei festzustellen ebenfalls: Liebe ohne Ende auch in dieser Hinsicht. So ist sie vor allem ein umfassender Begriff für ein unfassbares Phänomen. Durch die Zeiten hindurch wurde, um sie fassbarer zu machen, stets aufs Neue zu definieren versucht: »Liebe ist ...« Jede und jeder hat eine eigene Auffassung davon, was sie »ist«, ohne es wirklich wissen zu können. Jeder Versuch zur Definition wird umgehend wieder dementiert: Liebe ist Selbstlosigkeit? Aber ohne Selbstbehauptung des Liebenden wie des Geliebten verliert sie an Vitalität. Liebe ist Altruismus, ein Dasein für den Anderen? Aber die Wohltaten, die das Ich in ihr für sich sucht, lassen sie ebenso als Egoismus erscheinen. Liebe ist, so akzeptiert zu werden, wie ich bin? Aber wozu lieben, wenn nicht, um verändert zu werden! Liebe ist Leichtigkeit? Aber noch mehr ist sie mühsame Arbeit. Von Gewohnheiten wird sie eingeschläfert? Aber von ihnen wird sie auch gefestigt. Liebe ist eine Strategie, nicht an den Tod zu denken? Aber nichts
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