Die Liebe atmen lassen
Motivation, die sich dem Misstrauen eines Anderen verdankt, »es ihm mal zu zeigen«. Eine Auseinandersetzung mit dem »Kleingedruckten« des Lebens fände nicht mehr statt, denn das Vertrauen sieht großzügig darüber hinweg, während das Misstrauen stets die vermeintlichen Kleinigkeiten im Blick hat, in denen das große Ganze auf dem Spiel steht.
Angesichts dessen drängt sich der Eindruck auf, dass es inhuman ist, absolutes Vertrauen vorauszusetzen, um sodann jeden Haarriss in jeder Beziehung als absoluten Vertrauensbruch abzustrafen, human hingegen, grundsätzlich von einer Basis des Vertrauens auszugehen und gelegentliche Einbußen und Enttäuschungen mit einzukalkulieren. Wenn alle Blicke sich nur darauf richten, verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen, gerät die Bedeutung des Misstrauens leicht außer Blick. Misstrauen hat dort Sinn, wo es am Platz ist. Es ist dort am Platz, wo Vertrauen Dummheit wäre. Zu praktizieren ist es am besten in Form von Vorsicht , um Probleme frühzeitig wahrzunehmen und Antworten auf Herausforderungen rechtzeitig vorzubereiten: Vorsicht etwa beim Verleihen vonDingen, denn das Vertrauen auf Rückgabe ist meist ganz fehl am Platz. Vorsicht beim Preisgeben intimer Informationen schon in bejahenden Beziehungen, erst recht in funktionalen und vor allem in virtuellen, denn wenn es Gelegenheit zum Missbrauch gibt, wird sie irgendwann auch genutzt. Vorsicht, wenn es angeblich »nur um die Sache geht«, denn es geht nie nur um Sachen, immer auch um Personen, und diesen meist um Macht. Vorsicht, wenn ein Mensch behauptet, es gehe ihm niemals um Macht, denn gerade ihm geht es um nichts Anderes. Vorsicht, wenn einer zu viel vom Vertrauen spricht: Er könnte ein Interesse daran haben, mich einzuschläfern. Vorsicht, wenn eine ganze Flut von Vertrauensbeweisen hereinbricht: Es handelt sich wohl um einen Versuch zur Überwältigung. Vorsicht letztlich gegenüber einer Kultur, die das Misstrauen theoretisch missachtet, praktisch aber befördert, mit immer neuen Versprechungen, die sich als uneinlösbar erweisen: Immerwährender Fortschritt, Aufhebung aller Widersprüche, universelles Glück. Wo es an Anlässen zum Misstrauen nicht mangelt, ist blindes Vertrauen reiner Leichtsinn.
Sinnvoll erscheint demgegenüber, einen maßvollen Pegel des Misstrauens aufrecht zu erhalten, schon um die Anfälligkeit für Enttäuschungen abzumildern und das Bewusstsein für den Wert des Vertrauens zu stärken. Ein Mindestmaß an Misstrauen erscheint angebracht, da Vertrauen die vielfältigen Beziehungen zwischen Menschen keineswegs nur vereinfacht, nicht immer also »ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität« ist, wie Niklas Luhmann 1968 meinte. Beziehungen werden vielmehr schwieriger, wenn ein allzu großes Vertrauen unliebsame Konsequenzen nach sich zieht, die mit ein wenig Misstrauen zur rechten Zeit zu verhindern gewesen wären. Vertrauen kann das Leben erleichtern, aber einwohldosiertes Quantum an Misstrauen sorgt dafür, dass die Erleichterung nicht unversehens das Leben erschwert, denn nicht nur Misstrauen macht Stress, sondern auch das unangebrachte Vertrauen. Vertrauen hat weiterhin Sinn, wenn das Misstrauen nicht gänzlich missachtet wird. Entscheidend ist, das richtige Maß zu treffen: Ein Untermaß an Misstrauen ist Leichtsinn, ein Übermaß löst jede bejahende Beziehung auf. Im langen Prozess der Erfahrung und Besinnung entsteht erst ein Gespür dafür, in welcher Situation bei welchem Gegenüber welches Maß an Vertrauen und Misstrauen angemessen ist.
Im Alltag ergänzt eine gesunde Skepsis das Vertrauen, auch ohne konkreten Anlass, um im Zweifelsfall nicht »aus allen Wolken zu fallen«, sondern das Leben wieder selbst in die Hand nehmen zu können. Die Skepsis verhindert das Übermaß an Vertrauen, das sich plötzlich in ein Übermaß an Misstrauen verkehrt. Die Pflege der Skepsis erfordert kein ständiges, aufwändiges Kontrollieren, nur ein unaufdringliches controlling in verlässlicher Regelmäßigkeit. Auf die Dinge und Verhältnisse von Zeit zu Zeit »ein Auge zu haben«, ist eine Methode, für ihre Verlässlichkeit Sorge zu tragen. Wünschenswert wäre ein Grundvertrauen , das grundsätzlich gilt, aber einen Hauch von Misstrauen mit umfassen kann: Ein Grundvertrauen auch zwischen zweien, das groß genug ist, um sich wechselseitig sehr viel Freiraum gewähren zu können und dennoch nicht ständig um die Beziehung fürchten zu müssen, da bei aller Zuverlässigkeit, die erhofft
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