Die Liebe atmen lassen
Schaden anrichtet, wenn er im eigenen Inneren in aller Stille wütet, dringt endlich nach außen und wirkt mit seiner Äußerung auf den ärgerlichen Anderen ein. Ärgerlicher alsdie Anwesenheit des Anderen ist allenfalls seine Abwesenheit, denn dann bleibt das Selbst mit seinem Ärger allein, und das ist problematischer: Der Affekt zermürbt die mühsam errungene eigene Integrität und führt früher oder später zur Selbstdestruktion.
Die konstruktive Wendung des Ärgers hingegen bietet fünftens eine Gelegenheit zur Klärung seiner selbst , um sich neu zu finden und den eigenen Kern zu regenerieren. Zeiten des Ärgers sind Zeiten der Verdrießlichkeit und des Verdrusses; sie halten Andere auf Abstand, sodass der Raum frei wird, sich für eine Weile zurückzuziehen und nur noch mit sich, mit den inneren Fragestellungen und Auseinandersetzungen beschäftigt zu sein: Was hat meinen Ärger ausgelöst, und wie kann ich darauf antworten? Wo sind meine wunden Punkte, und wie kann ich sie heilen? An welchem Punkt bin ich angekommen, und wo will ich hin? Welche Bedeutung haben dabei welche Beziehungen zu Anderen? Die Selbstklärung ist die beste Voraussetzung dafür, wieder aus sich heraus und auf Andere zugehen zu können.
Es hat ganz den Anschein, als müsse, um all diese Funktionen zu erfüllen, ein Grundmaß an Ärger sichergestellt sein, im menschlichen Leben allgemein, insbesondere aber in einer Beziehung. Glücklicherweise muss niemand am Ärger Mangel leiden, er bedarf keiner neuen Erfindungen: Irgendetwas stört immer, immer ist etwas krumm, das ist die Regel, die kaum Ausnahmen kennt. Damit sein Überleben sichergestellt ist, sind die Anlässe des Ärgers zahlreich, und mit ehrgeizigen Plänen und ausufernden Erwartungen, die unerfüllbar bleiben, tragen moderne Menschen dazu bei, die Gelegenheiten noch zu potenzieren; weniger wichtig ist die Sache, um die es dabei geht, Hauptsache Ärger.
Von der individuellen Grundhaltung zum Ärger hängt ab, ob und wie mit ihm gelebt und gearbeitet werden kann. Die Grundhaltung wird von natürlicher Veranlagung, kultureller Üblichkeit und individuellen Erfahrungen beeinflusst, sie neu zu justieren ist eine Frage der Überlegung: Eine repressive Haltung , die den Ärger unterdrückt und »endgültig« loswerden will, erschwert jeden Versuch, mit ihm kunstvoll umzugehen. Eine existenzielle Haltung , die die Existenz des Selbst mit Ärger identifiziert, sodass es gänzlich in ihm aufgeht, bleibt auf Dauer an ihn gefesselt. Eine instrumentelle Haltung hingegen, die ihn zum Werkzeug der eigenen Interessen macht, ermöglicht, sich ohne große Mühe auch wieder von ihm zu lösen, sobald er ausgedient hat. Und eine affirmative Haltung wird dem Ärger wohl am meisten gerecht, denn sie sieht in ihm kein Instrument, sondern erkennt ihn von Grund auf in seinem eigenen Recht an. Zwar will es kaum jemandem gelingen, ihn offensiv willkommen zu heißen, aber es wäre angemessen, ihm die Existenzberechtigung nicht abzusprechen: Sobald der Ärger auf seine Anerkennung bauen kann, muss er sich nicht mehr gegen seine Abweisung zur Wehr setzen. Wer ihn voraussetzt, lebt heiterer mit seiner ewigen Wiederkehr.
Die Grundhaltung ist die Basis für den bewussten Umgang mit dem Affekt und eine mögliche Kunst des Umgangs mit Ärger , die sich auf sieben Parameter konzentriert: 1. Welcher Ärger, 2. in welcher Situation, 3. in Bezug auf wen oder was, 4. wann, 5. wie lange, 6. in welchem Maße und 7. bis zu welchem Punkt? Die erforderliche Bewusstheit ist nicht inmitten der Aufwallung zu erlangen, jedoch davor und danach: Sie besteht in der Besinnung auf die gemachten Erfahrungen, um aus ihnen Schlüsse für den Umgang mit dem Affekt zu ziehen. Sodann ist die praktische Einübung der Schlüsse in einemlange währenden Prozess vonnöten, um mit neuerlichen Erfahrungen und neuer Besinnung ein Gespür für den Umgang mit dem Ärger auszubilden und immer weiter zu verfeinern. Auch diese Kunst kommt von Können, und zweierlei Können ist erforderlich, um das nötige Quantum an Ärger anzusteuern, bei jedem Mangel und Übermaß aber gegenzusteuern: Das passive Können , sich ärgern zu lassen, einen Reiz dazu aufzunehmen und in den Affekt umzusetzen – oder eben nicht, denn grundsätzlich ist es möglich, nicht auf jeden Reiz zu reagieren, sondern vieles sozusagen ungeahndet an sich vorüberstreichen zu lassen. Und das aktive Können , Ärger zu machen, einen Anlass dafür selbst zu schaffen mit einer
Weitere Kostenlose Bücher