Die Liebe atmen lassen
bitteren Vorwurf zu, die eben erst gefundene Einheit und Gemeinsamkeit zu verraten; und doch vermag im Zustand der Verschmelzung niemand dauerhaft zu leben. Wo die Nähe zu groß wird, verweist der Ärger wieder auf Distanz, und gerade dann, wenn »eigentlich alles stimmt«, wird er vorsätzlich gesucht, ein Wort, eine Geste genügt, der Vorsatz aber wird geleugnet: »Es ist mir herausgerutscht.« Zuverlässig setzt der Ärger daraufhin Wut, Zorn und Jähzorn frei, schüttet sie geradezu verschwenderisch aus, lässt den Körper erzittern, die Stimme erbeben; mit Macht ergießt er sich in beredtes Schweigen, heftige Wortwechsel, wütende Bewegung, kleine oder große Rache. Diesen Moment zu leben, ihm Ausdruck zu geben, ist die Voraussetzung dafür, den Ärger im nächsten Moment wieder zurücknehmen zu können, wenn er ohnehin an Energie verliert und die Zeit für eine Wiedergutmachung reif ist.
Je entschiedener die Wiederherstellung der Polarität betrieben wird, desto zügiger ist sie erledigt, und im selben Maße, indem der Ärger forciert wird, löst er sich auch wieder auf. Ihn für eine Weile zu verstärken, erscheint als Element der Gesundheit, abhängig nur davon, sich den Ärger wechselseitig zuzugestehen. Dann kann er eine Sauna für die Seele sein: Dem Aufenthalt in der Hitze des Gefühls folgt die Abkühlung im Tauchbecken der Ernüchterung, und erst wenn beide Stationen absolviert sind, stellt sich das wohlige Gefühl der Entspannung ein. Atmen kann die Beziehung, die den Ärger integriert und die ungleichzeitigen Bedürfnisse danach austariert: Gelöst, befreit können die Beteiligten sich wieder einander und anderen Dingen zuwenden. Wechselseitig könnten sie sich dankbar für den Ärger sein und sich an ihm erfreuen, zöge dies nicht Verwirrung nach sich, da es die Ordnung des Affekts unterliefe, der Ärger nur sein kann, wenn er wirklich ärgerlich ist. Ihn jedoch zu unterdrücken, macht die anschließende Sanftheit unmöglich, denn unter der Haut, subkutan , schwelen Wut und Zorn weiter vor sich hin und schleichen sich in Mimik, Gestik und Rhetorik ein: Während von Harmonie die Rede ist, zucken ganz andere Muskeln im Gesicht.
Die auffällig freudige Bereitschaft, sich wechselseitig zu ärgern, verweist deutlich auf den Sinn des Ärgers (Verena Kast, 2005), denn der Affekt steht keineswegs zusammenhanglos im Raum, sondern erfüllt wichtige Funktionen: Er ist erstens ein Kunstgriff der Polarisierung , der mit einer einzigen, wenngleich negativ bewerteten Aufwallung sämtliche positiven Gefühle zu konterkarieren vermag und nicht nur die positive, sondern auch die negative Seite des Selbst und Anderer wieder fühlbar macht. Immer und überall lässt sich damit Spannung erzeugen, Spannung aber ist Leben: Die Aufladung mit Energie und deren Entladung im Ärger bringt die Lebenskräfte von Neuem in Schwung.
Der Ärger sorgt damit zweitens für eine willkommene Abwechslung in der Gleichförmigkeit des Alltags und stört mit seiner Unruhe die allzu große Ruhe auf: Endlich mal was Anderes, bevor Langeweile und Leblosigkeit im Gewand der Gleichgültigkeit bedrohlich werden. Im Kontrast zum alltäglichen Mangel an Leidenschaft ermöglicht der Ärger eine leidenschaftliche Bewegung, die umstandslos zu haben ist und gerade aus diesem Grund dankbar angenommen wird; andere Bewegungen fallen deutlich aufwändiger aus und erfordern umfangreichere Investitionen.
Bei aller Abwechslung wird dennoch der vertraute Rahmen des Lebens nicht gesprengt, denn in aller Regel kehrt der gleiche Ärger ewig wieder, sodass drittens ein zyklisches Element mit rituellem Charakter von beruhigender Regelmäßigkeit daraus hervorgeht, eingetaktet in das Wechselspiel der Lebensphasen, hilfreich bei der Einrichtung des alltäglichen Lebens, das ansonsten hilflos der davoneilenden Zielstrebigkeit moderner Menschen ausgeliefert bleibt; auch aus diesem Grund wird so häufig nach Ärger gesucht.
Der Ärger erlaubt viertens die Behauptung einer eigenen Macht . Endlich kann das Selbst, das sich bedrückt, womöglich gedemütigt fühlt, auftrumpfen und selbst wieder Einfluss gewinnen. Es sieht sich nicht mehr zum Wohlverhalten verpflichtet, nicht mehr dem Anderen oder allgemein »den Verhältnissen« ausgeliefert; die Situation ist wieder offen. Wo Unrecht und Unwahrheit hingenommen werden müssen, verschafft der Ärger die tiefe Befriedigung, jetzt ein Recht für sich beanspruchen und die Wahrheit herausschreien zu können. Er, der nur
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